■ Normalzeit: Der Lebensschwerpunkt
Während der Desertionskampagne des SDS, in US-Army und Bundeswehr, wurde den fahnenfluchtwilligen Westdeutschen geraten, sich in Berlin anzumelden. Zwar wurden viele Deserteure dann im Zuge polizeilicher Amtshilfe trotz einer von den Alliierten festgelegten Exterritorialität Berlins zwangsweise zu ihrem Buwe-Standort ausgeflogen, aber desungeachtet tastete man ihren freigewählten „Lebensschwerpunkt“ nicht an.
Das hat sich nun geändert. Vor drei Wochen verurteilte das Moabiter Amtsgericht einen Pfarrer, nur weil er einen Obdachlosen pro forma bei sich angemeldet hatte. Die vor Gericht unterlegene Obdachlosen- und Pfarrergruppe traf sich nach dem Prozeß im Café Torpedokäfer, Dunckerstraße. Unter ihnen die Chefredakteurin der aus Frankreich exportierten Obdachlosenzeitung HAZ, Sonja Kemnitz. Sie war früher Philosophin gewesen. Während der Wende wechselte sie zum Werkzeugmaschinen-Hersteller Niles, wo sie dem neuen Firmenleiter zuarbeitete, außerdem war sie dort Betriebsrätin und gründete die Betriebsräteinitiative mit. Dann trat sie jedoch aus der PDS aus und hörte auch bei Niles auf.
Im Torpedokäfer erzählte ich ihr, daß Dimitri, der früher das Fischbüro gemanagt hatte, dann den Tresor, mit Tuna-Bar, und schließlich das Weltrestaurant, jetzt auch noch ein Lokal gegenüber der Markthalle in der Pücklerstraße besitze: „Im Goldenen Hahn“. Dort gebe es hinter der Theke einen Apothekerschrank mit vielen etikettierten Fächern („Zinkweiss/Ingwer gem./Hafergrütze“ zum Beispiel), die man für 20 Mark im Monat mieten könne – als „pro-forma-Wohnsitz“. Dazu stünde einem im Lokal – neben den üblichen geistigen Getränken (Obstler z.B.), sowie Kaffee und (seltenen!) Zigaretten – auch noch ein Schreibtisch mit Papier, Schreibmaschine und Telefon zur Verfügung. Bezahlte Lesungen gebe es gelegentlich auch, wobei die Geschäftsführerin jedoch „romantische Kurzgeschichten“ bevorzuge. Sonja war nichtsdestotrotz begeistert: Sie sah vor allem in den Schließfach-Lebensschwerpunkten „Goldener Hahn“ eine flankierende Maßnahme für die Berufung gegen das Urteil des Pastors.
Ich sollte weitere Fakten darüber herbeischaffen. Mein erster Recherche-Auftrag für die HAZ, genaugenommen. Heraus kam dabei aber leider nur, daß Dimitri in optimistischem Projektemacher-Überschwang zu viel versprochen hatte. Bisher kann man die Drogen- und Kolonialwaren- Fächer gegen Monatsmiete lediglich als Briefkasten – Postfach – und für „Messages“ benutzen. „Macht nichts“, meinte Sonja.
Wir sprachen dann über die baldige Vertreibung der Wohnwagen-Burg an der East-Side Gallery, weil sich dort der Bauherr „Opus“ aus der Kantstraße breitmachen will. Wobei wir uns einig waren, daß die Möglichkeiten eines „mobilen Wohnsitzes“ noch längst nicht ausgeschöpft sind, was wohl mit der spießig- kietzigen Immobilität der Hausbesetzer-Scene zusammenhänge.
Dazu hatte mir Sabine Vogel jüngst ein Fax aus Johannesburg geschickt, wo gerade besonders viele Häuser besetzt werden. Sie zitierte darin unter anderem einen schwarzen Künstler-Philosophen: „Manche lassen sich von einem Stuhl korrumpieren, weil sie nicht squatten können!“ Zu den Wohnwagen fiel uns die Baracken-Architektur der Ostblock- Kommunisten ein, die eigentlich ja bereits die Bauarbeiter- und Asylanten-Containerdörfer im Westen überholt hatten, ohne deswegen weniger mobil zu sein. Vorläufiger Effizienz-Höhepunkt sei jedoch eine neue Idee aus der Kleiderbranche: Komplette Textilindustrien auf Schiffen, die immer dort anlegen, wo sich ein neues Billiglohnland auftut. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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