piwik no script img

SanssouciVorschlag

■ Schweigen: Filmreihe für Gehörlose und Hörende im Eiszeit

Wer nicht hören und nicht sprechen kann, hatte lange Zeit kaum Chancen in unserer sprachfixierten Gesellschaft. Gehörlose galten einst sogar als bildungsunfähig. Nur im Film war's früh schon anders, wenn auch nicht weniger falsch: Harpo Marx, der clevere Narr, stellte seinerzeit nur die positive Seite des Stereotyps vom stummen, in sich selbst verschlossenen Träumer dar. Aber als Hollywood sich mit „Gottes vergessene Kinder“ des Themas ernsthaft annahm, wuchs das Bewußtsein für die immer entweder über- oder unterschätzte Behinderung. Das Eiszeit- Kino will mit seiner Filmreihe einen Überblick bieten über die verschiedenen Wege, das Schweigen zu überwinden.

Die Gebärdensprache ist für Gehörlose das naheliegende Medium, fördert auch eine Gruppen-Identität – grenzt Hörende aber erst mal aus, was sicher ein Grund dafür ist, daß diese Sprache gesellschaftlich erst heutzutage zögerlich akzeptiert wird. Die Dokumentarfilmerin Brigitte Lemaine zeigt in „Témoins sourds, témoins muets“ oder „Les Mains du sourd“ die geradezu tänzerische Leichtigkeit, Eleganz und Expressivität der Gebärdensprache. Überraschend schnell beginnt auch der hörende Zuschauer, das Vokabular der Gebärden zu verstehen. Schade, daß sie ihre Botschaft von der „guten“ Gebärdensprache und der „bösen“ Verbalsprache etwas penetrant vorbringt.

Der mit Mitteln des Expressionismus spielende Kurzfilm „Alice & der Aurifactor“, in dem ein caligarihafter Zauberer das friedliche Volk der Gehörlosen mit Lärm terrorisiert, geht da ironischer vor. „Brücke für Ben“, ein Film über gehörlose KZ- Häftlinge, dokumentiert indessen die Verfolgung nicht nur jüdischer Gehörloser im Dritten Reich. Der herausragendste Film der Reihe ist jedoch Werner Herzogs „Land des Schweigens und der Dunkelheit“, das Portrait der gehörlosen und blinden Fanni Stranninger und ihrer Bekannten. In ständigem Körperkontakt (um sich nicht zu verlieren) tasten sich die beiden durch die Welt und unterhalten sich, indem sie gegenseitig auf ihre Handflächen „schreiben“. Wenn wir sehen, wie sie im Botanischen Garten die Pflanzen betasten und im Zoo verzückt die Tiere streicheln, wenn Stranninger (sie kann sprechen, aber nicht hören) im Deutsch von 1910 ihre Empfindungen von Gegenständen und Oberflächen schildert, dann ahnt man, welches Wahrnehmungspotential bei Hörenden verkümmert ist. Jörg Häntzschel

Bis 14.6., Eiszeit-Kino, Zeughofstraße 20, Kreuzberg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen