: Der Untergang des Moby Dick
Boris Beckers Hoffnungen auf einen vierten Wimbledonsieg überleben beim 7:6, 6:3, 6:4 gegen Dick Norman den Friedhof der Champions ■ Aus Wimbledon Matti Lieske
„Dies ist mein Haus“, pflegt der extrovertierte und mundfertige Baseball- und Footballstar Deion Sanders über das Stadion des Teams zu sagen, dem er gerade angehört. Dem nüchtern denkenden Tennisspieler Pete Sampras ist eine derartige Besitzergreifung völlig fremd. „Es gibt nichts, was ich mit Deion Sanders gemeinsam habe“, beantwortet er mit hochgezogenen Augenbrauen die Frage, ob er den Centre Court von Wimbledon denn inzwischen als seine Heimstatt betrachte. Zweimal hat er hier den Titel gewonnen, und beim klaren Dreisatzsieg gegen Britanniens neu erworbenen Filzballprügler Greg Rusedski stellte der 23jährige an gleicher Stelle klar, daß es schwer sein wird, ihn an einem dritten Sieg zu hindern.
„Ich wollte ihm das Lächeln aus dem Gesicht wischen“, sagte Sampras ungewohnt kriegerisch nach dem Match, ein Vorhaben, das ihm natürlich nicht glückte, denn das Grinsen des Ex-Kanadiers ist festgewachsen. Dafür gelang es dem US-Amerikaner, zu demonstrieren, was es heißt, „gegen den besten Rasenplatzspieler der Welt“ (Rusedski) anzutreten. „Er hat einige Löcher in seinem Spiel“, urteilte Sampras kühl über Englands 21jährige Tenniszukunft, aber vielleicht stand Rusedski ja nur unter Schock, weil Herzog und Herzogin von Kent, kaum daß er den Platz betreten hatte, den ihren in der Royal Box verließen, um den fälligen Fünfuhrtee einzunehmen.
Boris Becker hat mit der Inbesitznahme fremder Immobilien erheblich weniger Schwierigkeiten als Pete Sampras, und dies nicht erst seit seinem kurzen Flirt mit der Hafenstraße. Schon früh bezeichnete er den Centre Court von Wimbledon, auf dem er die drei größten Siege seiner Karriere feierte, umstandslos als sein Wohnzimmer. Das Wimbledon-Komitee scheint jedoch fest entschlossen, den dreisten Hausbesetzer loszuwerden. Nur ein einziges seiner bisherigen vier Matches durfte Becker auf seinem „Platz Nummer eins in der Welt“ austragen, was er nach außen hin mit Gleichmut akzeptiert, „solange sie mich nicht auf Platz 7 oder 8 stecken“. Platz 2 im Achtelfinale gegen den Belgier Dick Norman war nahe daran.
Der „Friedhof der Champions“ birgt für Becker besonders unliebsame Erinnerungen. Bei seiner ersten Wimbledonteilnahme 1984 brach er sich hier in der dritten Runde gegen Bill Scanlon den Fuß, und perfiderweise hatte man mit Gerry Armstrong denselben Schiedsrichter wie damals auf den Stuhl gesetzt. Der versäumte es nicht, Becker mit einem munteren: „Na, weißt du noch, wie du dich vor elf Jahren hier verletzt hast“, an die körperlichen und seelischen Qualen des damals 16jährigen zu erinnern. „Kein schöner Anfang für so ein schweres Match“, meinte Becker. Doch die Kalkulation der Landlords von Wimbledon schlug fehl. Zu schwach spielte Dick Norman, zu wohlkomponiert Boris Becker, der sich auch durch die überbordende Physis des 2,04m- Hünen nicht einschüchtern ließ. „Wow, ist der riesig“, habe er zwar zuerst gedacht, aber schließlich spiele man ja nicht gegen den Mann, sondern gegen die Bälle. Diese kommen, wenn Norman aus luftiger Höhe aufschlägt, meist in Schulterhöhe an, er ist schwer zu passieren, und die Volleys erreicht er dank seiner langen Arme so früh, daß er sie fast parallel zum Netz spielen kann.
Im Achtelfinale von Wimbledon war der wortkarge Norman („Wenn wir ein 90-Sekunden-Feature drehen wollen, müssen wir ihm mindestens zwölf Fragen stellen“, so belgische Fernsehleute) gegen den nicht spektakulär, aber grundsolide spielenden Favoriten mit seinem begrenzten Tennislatein am Ende. Die Aufschläge kamen längst nicht mehr so gut wie in den Spielen zuvor, und auch die flämischen Anfeuerungsrufe, die ungefähr wie „Moby Dick, Moby Dick“ klangen, konnten ihn nicht dazu anstacheln, nach Pat Cash und Stefan Edberg einen weiteren Wimbledonsieger aus dem Turnier zu kippen.
Körperlich sei er hundertprozentig fit, ließ Boris Becker nach dem 7:6, 6:3, 6:4 verlauten, die geistige Standfestigkeit holt er sich in seinem Wohnzimmer, auch wenn man ihn dort nicht spielen läßt. Vor seiner Partie gegen Norman saß der 27jährige eine ganze Weile am Centre Court und sah zu, wie Andre Agassi Alexander Mronz umherjagte. „Das ist der optimale Platz, um sich auf ein Match vorzubereiten“, ist Becker überzeugt. Außerdem ist es eine gute Gelegenheit, seinen möglichen Kontrahenten im allseits erträumten Halbfinale zu beobachten.
Bevor er sich jedoch mit Andre Agassi messen darf, muß der verhinderte Hausherr von Wimbledon heute noch den unbequemen Franzosen Cedric Pioline aus dem Weg räumen. Diesmal vermutlich auf Platz 8.
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