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Venezianische Miniatur

Die Biennale-Pavillons in den Giardini – ein Weltpark der Künste wird hundert Jahre alt  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es ist leicht zu raten, warum eine zerbombte Stadt Kassel im „Zonenrandgebiet“ die Chance bekam, mit der Documenta die Impulse der Westkunst zu verorten. Es ist aber schwer zu begreifen, warum eine Stadt wie Venedig, vollgestopft mit Kunst- und Architekturgeschichte, bei der Herausbildung der Künstlersezessionen die Chance ergriff, der internationalen Kunst einen magnetischen Punkt zu verschaffen, der als „Biennale“ gleichzeitig ihre Uhr ist.

Daß die Biennale d'arte ein Verbund von Nationen ist, bringt ihr nicht nur in Deutschland viele Gegner. Allenthalben werden Parolen ausgegeben, die das große Treffen in Venedig in sein Gegenteil verwandeln wollen. Für die Österreicher behauptet „Kommissär“ Peter Weibel in diesem Jahr: „Ich zeige sozusagen kulturelle Ausländer mit einem österreichischen Paß.“

Um hineinzugelangen, braucht man nur eine Eintrittskarte. Dann betritt man einen Park der Nationen, der die Miniatur einer Stadt am Wasser darstellt. Wie auf den Landkarten früher Eroberer, sind die Nachbarschaften grotesk verzerrt dargestellt. Venezuela liegt zwischen der Schweiz und Rußland, Australien hinter Frankreich und neben Uruguay. Schräg hinter der ständigen Vertretung Westdeutschlands haben die asiatischen Parvenüs, die Koreaner, ein Haus aus Glas, Holz und Stahl ins Grüne gehauen.

Das sind die Giardini, einer der seltsamsten Plätze der Welt; eine Stadt mit nur einem Laden (der hat nichts als Bücher). Ein kultureller Sportplatz der Vereinten Nationen (es werden Pokale vergeben). Ein teils noch wucherndes, teils schon zersiedeltes Terrain, das jeden zweiten Sommer für das Publikum offen ist – wenn nicht gerade wieder umgestellt wird von den ungeraden auf die geraden Jahresrhythmen oder andersherum. In den Zeiten dazwischen gehört die Kunststadt den Katzen.

Die Biennale ist anfangs gar keine italienische Angelegenheit gewesen, sondern eine der Stadt Venedig. Deren Gemeinderat war sich am 6. April 1894 einig gewesen, „dass eben die Kunst eines der wertvollsten Elemente der Civilisation bildet und sowohl eine vorurteilsfreie Entwicklung des Geistes sowie die brüderliche Vereinigung aller Völker bietet“, wie man damals den Brief aus Venedig ins Deutsche brachte. Die Venezianer schickten sich an, „mehrere unter den berühmtesten europäischen Künstlern“ einzuladen – das heißt, die Initiatoren traten als Kuratoren auf, zahlten alles, auch die Transporte. Schauplatz war ein mit pseudoklassischer Pracht behangener Kunsttempel, der fast vierzig Jahre Hauptort der städtischen Europaausstellung war, während drumherum die ersten Gebäude der Nationen errichtet wurden: Das erste halbwegs moderne war das sezessionistische Gehäuse der Belgier, das „Krematorium“, wie die Zeitgenossen sagten.

Die Verwirrung, Sinnstifter zu sein und sein zu müssen, schlägt sich noch heute in dem seltsamen Konglomerat nieder, das der nunmehr „italienische“ Pavillon nach mehrfachem rückwärtigen Anbau darstellt, ein labyrinthisches Museum mit mehreren Toren und Hintertüren, altherrschaftlichem Kuppelsaal und einem zu eng geratenen Binnengärtchen. Das Gebäude ist gewissermaßen mit seinen Aufgaben gewachsen – zu sehr.

Dennoch, auf hundert Jahre gesehen, sind dort die Konzepte entwickelt worden und haben sie sich erübrigt, hat man dort wichtige Retrospektiven gezeigt und neue Nationen ins Programm gehoben. Der italienische Pavillon ist das, was in Kassel das Fridericianum ist, mit dem Unterschied, daß der italienische Pavillon als padiglione centrale nicht überzeugen muß. Je komplexer das Geschehen unter den Ländern wird, desto weniger braucht man die kompensatorische Funktion. Überhaupt ist dieser Pavillon kein echter Pavillon. Ihm fehlen die wichtigsten Kriterien dafür. Um einen Pavillon muß man herumgehen können. Sein Grundriß muß sofort klar sein. Es muß vorstellbar sein, daß er eines Tages vom Erdboden verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen, nicht einmal Geister.

In den Giardini gibt es finstere Schlösser und ein Holzhaus im Grünen, simple Kuben und artige Flügelbauten, einen aufgebockten Bungalow und ein zweiteiliges Haus, das man genau durch seine Mitte durchqueren kann.

Was zu sehen ist, kann nicht viel besser sein als das Haus, in dem es spielt. Ob die Kanadier jemals ihr häßliches Glashaus, eine Mischung aus Bushaltestelle und Wigwam, in den Griff bekommen, ist fraglich. Aber für die meisten Pavillons gilt das Gegenteil: Sie bieten, wie große Bühnen, alle Freiheiten. Aber welche Künstlerin, welcher Künstler kann von ihnen Gebrauch machen?

Die Gebäude in den Giardini wurden in vier Phasen errichtet: In den sieben Jahren vor dem Ersten Weltkrieg; von 1920 bis 1932; von 1955 bis 1964; und seit 1988. Allerdings sind fast sämtliche frühen Gebäude im nachhinein verändert worden, so daß man sich die ursprüngliche Situation nur noch schwer vorstellen kann. Auf jeden Fall gab es schon beide Achsen; eine, die nach Nordosten zeigt und wohl deshalb Viale Trieste heißt: sie läuft auf die Fassade des italienischen Tempels zu und hatte damals zur linken nur zwei weitere Pavillons, den belgischen und den holländischen. Die andere Achse zweigt gleich am Eingang des Parks rechts ab und führt bei einer Minute Fußweg direkt auf eine Treppe, über die man die prächtige Loggia des britischen Pavillons erreicht, der sich schon im Sommer 1912 den kleinen Platz am Kopf der Viale Trento mit dem deutschen und dem französischen Pavillon teilte. Damit war die mehr oder weniger dreieckige Parkanlage von ihren Eckpunkten her durch die „Esposizione internazionale d'arte della città di Venezia“ in Beschlag genommen. Der ungarische Pavillon, dessen schillernde Mosaike am Eingang bei den späteren Umbauten erhalten geblieben sind, wurde dem italienischen Komplex schräg zur Seite gestellt und deutete damit einen imaginären Versammlungsort an, der sich rechts von der Viale Trieste bilden sollte.

Schon damals ergab sich ein beträchtliches Gefälle im Modus der Repräsentation: die Pavillons der Belgier, der Holländer und der Ungarn teilten die jugendgestylte Sakralität des beginnenden Jahrhunderts – waren also unterwegs zum Gesamtkunstwerk –, während die Pavillons der anderen Nationen mit römischen Zitaten jonglierten, um die Unzweifelhaftigkeit der Hingabe an die Schönen Künste als Aufgabe der Nation kräftig herauszututen.

Bei einem flüchtigen Rundgang würde man wohl auch den amerikanischen Pavillon der ersten Phase zurechnen. Tatsächlich wurde der neopalladinische Flügelbau aber erst 1930 errichtet. Mit seinem viersäuligen Portikus und einer flachen Kuppel über dem zentralen Saal hat er die typische falsche Strenge der frühen amerikanischen Demokratie. Allein dieser Bau sowie die Pavillons Frankreichs und Großbritanniens mußten bis jetzt nicht wesentlich verändert werden, um die Verzahnung von Repräsentation und Präsentation zu leisten – was man durchaus so lesen kann, daß die stabilen westlichen Nationen, die alten Demokratien, geschickter waren im Zitat des römischen Formenschatzes als zum Beispiel die Italiener selbst.

Lägen die Giardini am Genfer See, wären sie vielleicht eine Kunst-Idylle geworden. Wo sie sind, wurden sie zu einem Problem. Der italienische Staat, auf dem Weg in den Faschismus, riß sich die Biennale der Stadt Venedig unter den Nagel. Der zentrale Pavillon, der bis dahin schlicht „Pro Arte“ geheißen hatte, wurde 1932 ein padiglione Italia, nachdem die vertrackte Gründerfassade geschleift und durch eine imperiale Kastenform ersetzt worden war. Im gleichen Jahr wurde das Gelände um einen Streifen auf der angrenzenden Insel Sant' Elena erweitert, und die Stadt Venedig bekam dort einen monströsen Gebäuderiegel mit hohen weißen, geschwungenen Fassaden und hohen schweren Holztüren mit Blick nach Westen. Am Nord- und Südende der Anbau- Giardini errichteten 1934 Österreich und Griechenland ihre Pavillons. Mussolini und Hitler sagten sich guten Tag (oder was auch immer).

Bis dahin hatte die Biennale versucht eine Form zu finden; sie war ernsthaft bemüht gewesen, die besten „europäischen Künstler“ in einer zeitgenössischen Ausstellung zusammenzubringen. Ihre Gründung fiel in die Zeit des späten Impressionismus, und das größte Problem der Leitung war, ein offizielles System der Belieferung zu etablieren, das nicht die sturen akademischen Maler bediente, sondern die Skandale der Moderne mitnahm. Diese Moderne war zwischen Impressionismus, Surrealismus und Antikunst dabei, eine „internationale“ Sprache herauszubilden; und das Kuriosum der Biennale ist es geblieben, daß sich diese Internationalität nicht als Ensemble von Einzelleistungen (wie auf der Documenta) darstellt, sondern mit dem heldischen Gesicht nationaler Repräsentanz daherkommt.

Die Qualität der Biennale hängt also davon ab, wie unabhängig die Gremien der Länder sind. Die Systeme der Länder, ihre Pavillons zu beschicken, sind auch heute noch nicht gleich. In der Schweiz entscheidet eine Künstlerkommission, während der Kommissar nur die technische Seite abwickelt. In Deutschland wählen berufene Museumschefs einen der ihren als Kommissar, der völlig freie Wahl bei den Künstlern hat. Bei den Briten hat der Arts Council das Geschehen in der Hand.

Über Jahrzehnte sind die Pavillons eigentlich Salons gewesen, in denen die Künstler in Scharen vertreten waren und die Kunst nach den Regeln des Zeitgeschmacks eingerichtet wurde, die Wände drapiert und schwere Sitzmöbel zum Kontemplieren. Das Korrektiv zu den schwergängigen nationalen Präsentationen war der zentrale Pavillon, der mit Retrospektiven gegenhielt. Selbst in den 50er Jahren, als man sich im verspätet wiedereröffneten deutschen Pavillon auf Wiedergutmachung durch Expressionismus mit Tendenz zur Abstraktion spezialisierte, glichen die Italiener die falsche Vorsicht durch eine Wols-Schau aus. 1960 wurde mit einem Rückblick auf Schwitters Dadakunst alternatives Programm gemacht.

Erst nach 1968 lernten die Ländergremien- und Kommissare, den Selbstschutzreflex zu besiegen. Dabei hat sich mit Minimal Art und Installationskunst eben auch das Verhältnis zum „Museum“, zum Repräsentationsraum, verändert. 1972 wurde Gerhard Richter erstmals der deutsche Pavillon allein anvertraut. Gerade die Fähigkeit von Künstlern, das „nationale Problem“ anschaulich zu machen, gilt inzwischen als Schlüsselqualität für die Biennale von Venedig, mitsamt des Großangriffs Hans Haackes auf den deutschen Pavillon 1993, als der Steinboden in ein Trümmerfeld verwandelt wurde. Nicht daß dem Kommissar Klaus Bußmann in Bonn dafür gedankt worden wäre, aber die Arbeit (zusammen mit den intensiven Installationen Nam June Paiks) zeigte die Qualität der Biennale, den Stand der Selbstkritik einer Nation mit vorzuzeigen. Das Konzept der Biennale im selben Jahr, jede Nation Künstler aus anderen Nationen einladen zu lassen, zeigte sich als begrenzt produktiv: Es stärkt im Zweifelsfall die dominanten Länder, vor allem die Amerikaner.

Das Magische an der Biennale ist ihre Bizarrerie. Ein blauer Holzschuppen mit großen weißen Winkeln, die den Außenwänden vorgesetzt sind, hat Finnland den Isländern überlassen. Es ist der kleinste Länderpavillon nach einem Entwurf von Alvar Aalto. Durch das gerippte Betondach des weit offenen Pavillons der „nordischen Länder“ wachsen ein halbes Dutzend Bäume (Sverre Fehn, 1962). Die dänische Säulenhalle von 1932 ist durch einen betont asymmetrischen Backsteinbau ergänzt worden, der sogar einen eigenen Ruhegarten hat (Peter Koch, 1958). Die Holländer haben in den fünfziger Jahren ihr altes Gebäude abgerissen und einen lichten, modernen Kubus von Gerrit Rietveld errichten lassen, in dem nun quengelige postmoderne Kunst einen unsichtbaren Feind hat. Und ein Künstler aus Luxemburg errichtete in diesem Jahr einen potemkinschen Pavillon in der Benelux-Zeile, hinter dessen Fassadenzaun es nichts zu sehen gab als Leute auf Liegestühlen.

Als die Australier 1988 ihren weißen Pfahlbau eröffneten, ließen sie verlauten, dies sei das letzte Gebäude, das auf dem Gelände errichtet würde. Das mögen auch die Koreaner gehofft haben, die in ihrem neuen Pavillon diesmal vor Übermut gleich Tourismusbroschüren ausgelegt haben.

Die Unvergleichbarkeit der Bauten und ihre verdeckte Geschichte, die Undurchschaubarkeit der nationalen Auswahlprozeduren und Präferenzen, die enorme Spanne zwischen plagiatorischem Kitsch und exzeptionellen Ideen – das ist das eigenartige Programm der Giardini, wenn sie öffnen.

Aktuelle Literatur: Marco Mulazzani:„I padiglioni della Biennale a Venezia“. eclecta, Mailand 1995.

Institut für Auslandsbeziehungen: „Biennale Venedig – Der deutsche Beitrag 1895-1995“. cantz, Stuttgart 1995.

Die 46. Biennale hat bis zum 15. Oktober geöffnet.

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