: „Gut organisierte Wehrkraftzersetzung“
Die Berliner „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ kümmert sich mit ihrer Beratung seit fünf Jahren um die Wehrpflichtigen – mit Erfolg: Die Jahrgangssollstärke des Militärs in der Hauptstadt wird bei weitem nicht erreicht ■ Von Uwe Rada
Politisch interessiert war Frank Bork eigentlich nicht – bis er im Juli vergangenen Jahres zur Bundeswehr einberufen wurde, und zwar zum Fallschirmjägerbataillon der Luftlandebrigade 31 in Wildeshausen bei Oldenburg. Eine Einheit, die zu den künftigen Krisenreaktionskräften gehört, die deutsche Interessen künftig weltweit vertreten sollen.
In der Wildeshauser Kaserne herrschte demnach nicht nur ein strenges Regiment, sondern auch ein überaus nationales. „Als erstes wurden uns die Köpfe kahlgeschoren“, erinnert sich Bork. „Dann mußten wir verbotene Lieder singen.“ Eines davon trägt den Titel „Hinter den Bergen“: „Narvik, Rotterdam, Korinth, Kreta, Cassino“, heißt es da, „sind Stätten unserer Siege.“ Kurze Zeit später beobachtete Bork eine Panzerfaustübung seiner Truppe. Kommentar des Kommandeurs: „Stellt euch vor, hinter der Mauer versteckt sich eine Gruppe Juden.“
Nach der Vereinigung legten die Werber der Bundeswehr in Berlin los
Solcherlei „Traditionspflege“ der Bundeswehr wollte der Berliner Rekrut nicht länger mit ansehen. Frank Bork schrieb Eingaben, Petitionen, Dienstaufsichtsbeschwerden. Umsonst. Nach drei Monaten Dienst schließlich wurde Bork im vergangenen September ausgemustert, wegen eines anaphylaktischen Schocks.
Heute versucht Frank Bork, die Bundeswehr als untauglich zu mustern. Als Mitstreiter der Berliner „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“: Ein antimilitaristisches Bündnis, das von sich selbst behauptet, in den vergangenen fünf Jahren 100.000 Berliner vor dem Gang in die Kasernen bewahrt zu haben. Nun feiert die Kampagne ihren fünfjährigen Geburtstag.
Unmittelbar nach der deutschen Vereinigung haben sie losgelegt, die Werber von der „starken Truppe“. Weil eine Wehrerfassung in Berlin erst aufgebaut werden mußte, galt es zunächst, sich an den „Wehrflüchtigen“ schadlos zu halten. Schätzungsweise 50.000 westdeutsche Männer hatten sich vor dem Fall dem Mauer „unerlaubt der Wehrkontrolle“ entzogen und sich vor Musterung oder Einberufung in den entmilitarisierten Westteil der Stadt abgesetzt. Nun, nach der Ent-Entmilitarisierung, sollten sie als erste in Berlin zu den Waffen greifen. Für die Berliner Antimilitaristen eine Kampfansage an die politische Kultur der Stadt.
Bereits im Juli 1990, am 34. Jahrestag der Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland, hatten sich mehr als sechzig Organisationen, von Graswurzlern bis Jusos, zu einer „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ zusammengeschlossen. Die nach dem damaligen Verteidigungsminister benannte „Rache Stoltenbergs“, die Nacherfassung von „Wehrflüchtigen“ bis zum 32. Lebensjahr, trieb die Betroffenen schließlich geradezu zur kollektiven Befehlsverweigerung. Im November 1990 zeigten 6.000 Wehrpflichtige bei einer „DeserteurInnenparade“ auf dem Charlottenburger Wittenbergplatz, was sie vom Militärdienst hielten: nämlich gar nichts.
Zehn Tage nach dem Spektakel folgte das Debakel für die Streitkräfte. Das Verwaltungsgericht Berlin erklärte die bis dahin geltende Praxis, Wehrflüchtlinge aufgrund der Aktenlage der westdeutschen Kreiswehrersatzämter einzuberufen, für ungültig. Ein Berliner Kreiswehrersatzamt freilich gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Ein erster Punktsieg für die „Kampagne“. Von „Stoltenbergs Rache“ war fortan keine Rede mehr.
Heute heißt der Minister Rühe, und auch er hat seine liebe Mühe mit der Berliner Wehrmoral. Als der Regierende Bürgermeister der Hauptstadt, Eberhard Diepgen (CDU), Anfang des Jahres etwas forsch ein öffentliches Rekrutengelöbnis für April am Brandenburger Tor ankündigte, mußte Rühe die Notbremse ziehen. Öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Kriegsdienstgegnern und der Polizei wie Anfang der achtziger Jahre in Bremen waren das letzte, was Berlin vor den Feiern zum 8. Mai brauchen konnte.
Mühe mit der Wehrmoral: Die Hauptstadt ist immer noch Militärdiaspora
Noch immer herrscht in Berlin kein Alltag für die Bundeswehr. Zwar verlief der „große Zapfenstreich“, das höchste Zeremoniell der Streitkräfte, anläßlich der Verabschiedung der Alliierten im vergangenen September nach einem Demonstrationsverbot weitgehend ruhig, für andere als Repräsentationszwecke sind die Soldaten in den Hauptstadtkasernen derzeit allerdings nicht vorgesehen. Und auch die in den Berliner Kasernen stationierten Rekruten, die auf Geheiß ihrer Vorgesetzten den Weg ins Wochenende uniformiert antreten, können wenig daran ändern, daß die Hauptstadt für das deutsche Militär immer noch zur Diaspora gehört.
Die Kampagne gegen Wehrpflicht ist daran nicht ganz unschuldig. Keiner der viermal jährlich stattfindenden Einberufungstermine verging in den letzten fünf Jahren ohne Gleisblockaden vor den Rekrutenzügen. Über 100 Aktionen, darunter Proteste gegen die „Neue Wache“ oder die Besetzung des „Bendler-Blocks“, der Außenstelle des Bonner Verteidigungsministeriums, haben die Kriegsdienstgegner auf dem Gewissen und sich damit einigen Ärger an der Heimatfront zugezogen. Als „militante Gruppe“ bezeichnete der Presseoffizier der Bundeswehr die Kampagne, die dafür bekannt sei, „daß sie aggressiv Standpunkte vertritt, die außerhalb unserer Rechtsordnung liegen – zum Beispiel die Totalverweigerung“. Damit, so der Schluß des Bundeswehrsprechers, „kriminalisiert sie junge Leute ihrer Gefolgschaft“.
Einer, der seit fünf Jahren die „jungen Leute“ vor der Lizenz zum Töten bewahren will, ist Holger Paech. Jeden Dienstag um 17.30 Uhr hält der angehende Politologe seine Überblicksberatung in den Räumen der Kampagne in der Kreuzberger Oranienstraße ab. Oft sitzen bis zu 60 junge Männer, einige davon mit Freundin, um das Tischgeviert und lauschen den subversiven Ratschlägen, die Paech zum besten gibt. „Das beste Mittel“, sagt er, „ist ziviler Ungehorsam, sprich die Verweigerung der Musterung.“ Ohne Musterung, so steht es auch auf zahlreichen Flugblättern und Plakaten der Kampagne, keine Einberufung. „Bestens organisierte Wehrkraftzersetzung“, schmunzelt ein Ratsuchender. Insbesondere für die älteren Semester unter den Wehrpflichtigen ist das eine Chance.
Der Rekord in Sachen Musterungsverweigerung liegt in Berlin bei 6 Jahren und 30 Ladungen. Wer sich bis zum 25. Geburtstag durchgemogelt hat, hat es geschafft. „Je mehr Leute Widerstand leisten“, ist Paech überzeugt, „desto größer die Chance für jeden einzelnen, nicht gemustert zu werden.“ Wer es nicht schafft, kann einen KDV-Antrag stellen oder wird, das unterscheidet die Kampagne von anderen Beratungsstellen, über die Möglichkeiten der Totalverweigerung informiert.
Tausend freiwillige Beratungen monatlich, davon kann das Berliner Kreiswehrersatzamt im stillgelegten Industrieviertel in Oberschöneweide nur träumen. Offiziell, so hat es der Bonner Wehrbeauftragte für das vergangene Jahr vorgerechnet, fanden 38 Prozent der Wehrpflichtigen den Gang in die Kasernen. Nach der Einführung der bedingten Tauglichkeitsstufe sieben werden nur noch 16 Prozent ausgemustert, andere schließlich gehen in den Katastrophenschutz, zur Feuerwehr oder zur Polizei, der Rest verweigert. Bundesweit, so bestätigt es auch das Berliner Kreiswehrersatzamt, halten sich Rekruten und Dienstpflichtige oftmals die Waage. Berlin ist wie Potsdam, wo die Kampagne gegen Wehrpflicht einen Abgeordneten in der Stadtverordnetenversammlung stellt, eine der Hochburgen der Kriegsdienstverweigerer. Hier wird keine Verteidigungsstatistik geführt. Zwischen vierzig und sechzig Prozent verweigern nach Angaben der Kriegsdienstgegner in der Bundeswehrdiaspora Berlin die erste Ladung zur Musterung. Nur wer sich nicht durchmogeln könne, stelle schließlich, so die Kampagne, einen Antrag auf KDV und absolviere den Zivildienst.
Im Berliner Kreiswehrersatzamt hält man die Zahlen der Kampagne für „völlig aus der Luft gegriffen“. Der derzeitigen Jahrgangsstärke von 13.000 bis 15.000 Wehrpflichtigen stehen 8.000 bis 10.000 Rekruten gegenüber, die der Berliner Standortkommandant der Bundeswehr jährlich nach Bonn zu melden hat. Doch auch der Bonner Staatssekretär Bernd Wilz muß einräumen: 40 Prozent der Nacherfaßten in Berlin haben die Musterung verweigert. Die Berliner Einberufungsquote ist damit nicht zu halten. Um die Sollstärke zu erreichen, meint Jens Dähne, Mitarbeiter beim Berliner Kreiswehrersatzamt, reichen die jeweiligen Jahrgänge nicht aus. Das sei auch der Grund gewesen, weshalb entgegen anderslautenden Versprechungen im vergangenen Jahr auch die Jahrgänge 1969 bis 1972 nacherfaßt worden seien. Ein weiterer Versuch, die Sollstärke zu erreichen, die Einberufung von Wehrpflichtigen ohne vorherige Musterung, wurde freilich Ende 1994 wiederum von den Gerichten gestoppt.
Die Bemühungen des Berliner Kreiswehrersatzamtes, mittels Nacherfassung die Rekrutenlücke zu überbrücken, ist, so freut sich die Kampagne, ein Schuß, der nach hinten losgehen könnte. Folge der Nacherfassung war ein Musterungsstau, der dazu führte, daß die älteren Jahrgänge noch immer nicht vollständig gemustert sind, während viele der jüngeren Wehrpflichtigen noch immer auf eine Ladung warten. Die Chance, unbeschadet das „Altersziel“ 25 zu erreichen, hat sich damit auch für die Jüngeren erhöht. Entsprechend hoch ist der Zulauf zur Kampagne. In 210 Fällen wußte sich das Kreiswehrersatzamt im vergangenen Jahr nicht mehr anders zu helfen, als die Wehrpflichtigen kurz vor dem Erreichen ihre 25. Geburstages polizeilich zur Musterung vorführen zu lassen.
Sascha Braumann ist erst 23 Jahre alt und hat bereits einige Wochen Bundeswehrarrest hinter sich. Sein Pech: Als Ostberliner war er bereits vor der Wiedervereinigung von der NVA gemustert worden. Daß er nicht zur Fahne wollte, hatte er den DDR-Behörden mitgeteilt, aber daß er auch nicht zum Bund wollte, hat er – innerhalb der eingeräumten Frist – nicht offiziell angekündigt. Sascha Braumann wurde zum Totalverweigerer. Einige hundert von ihnen gibt es in Berlin, und einer davon, Christian Herz, ist seit fünf Jahren Sprecher der Kampagne.
Die Kampagne kämpft auch gegen den Zivildienst als Teil der „Zwangsdienste“
Für Herz, wie auch für die anderen Mitstreiter des Bündnisses, steht nicht nur die Verweigerung des Wehrdienstes, sondern auch des Zivildiensts auf dem Programm. „Gegen Zwangsdienste“ war am 4. April auf einem Transparent zu lesen, das aus einem Gebäude an der Breiten Straße im künftigen Regierungsviertel hing. Etwa 20 Aktivisten der Kampagne hatten das Berliner Außenamt der Kölner Bundeszentrale für Zivildienst besetzt. Für sie ist auch der Zivildienst Bestandteil der Militarisierung der Gesellschaft oder schlicht „Kriegsdienst“, wie sie auf eines ihrer Flugblätter geschrieben haben. Vom „Mißbrauch von Zivildienstleistenden bei den noch immer stattfindenden Nato-Übungen“, spricht auch Sascha Braumann. Sein Prozeß wegen Totalverweigerung steht noch aus. Doch der Preis für diese Art von „zivilem Ungehorsam“ ist mit Bewährungsstrafen bis acht Monate inzwischen gestiegen. Für Holger Paech eine Art „Anerkennung der erfolgreichen Arbeit der Kampagne“.
Zunehmend härtere Reaktionen der Justiz sind Anerkennung für den Erfolg der Kampagne
Die härtere Gangart der Justiz, Ermittlungsverfahren wegen eines Kinospots, bei dem es heißt „Abschiebung ist Mord“, oder einer Satire im Bundeswehrformat: „Ja, töten!“, ein vom Berliner Schulsenator erlassenes Schulverbot für die Kampagne oder der Versuch, den Zivildienst unattraktiver zu machen, können dem Elan der Kampagnenstreiter allerdings kaum den Wind aus den Segeln nehmen. Das bleibt allein denen vorbehalten, um deren „Dienst“ es im Grunde geht. „Es gibt immer mehr Leute, die mit Goldkettchen und Handy in die Beratung kommen“, klagt Holger Paech über das wachsende Gefühl, als Dienstleister mißbraucht zu werden. „Eine politische Motivation für die Verweigerung“, weiß er, stehe nur noch bei wenigen im Vordergrund. „Für viele ist das einfach nur eine Frage der Karriereplanung oder einer nüchternen Kosten-Nutzen- Rechnung.“
Jubiläumsparty der Kampagne: Freitag, 21. 7., im Thommy-Weißbecker-Haus, Wilhelmstraße 9, Eintritt frei, Anmeldung erbeten. Auf dem Programm steht Akrobatik, Live-Musik, Essen und Trinken. Achtung: keine Beratung! Die Kampagne will feiern!
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