: Nicht Rache, sondern Gerechtigkeit
■ Beratungsstelle "Dialog" hilft beim Täter-Opfer-Ausgleich / Wenn beide Seiten Hergang und Folgen einer Tat aus ihrer Sicht schildern, wird der anderen Seite "oft einiges bewußt" / Noch Kapazitäten frei
Nachts um drei: Die Bruce- Springsteen-Platte wird gerade zum vierten Mal gespielt, Türen knallen und die Waschmaschine rumpelt im Takt dazu. Bernhard D. hat an diesem Abend genug. Der Lärm in der Wohnung über ihm bringt ihn in Rage, und er klingelt bei seinem Nachbarn. Ein Wort gibt das andere. Doch es bleibt nicht nur beim Wortwechsel, bald fliegen die Fetzen. Am Ende hat sein Nachbar Dieter W. eine blutige Lippe und die Bluse seiner Frau ist am Arm eingerissen. Und Bernhard D. hat eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung am Hals.
Doch was kann ein Strafverfahren klären? Kann es wirklich die zugrundeliegenden Konflikte aufdecken und das Verständnis füreinander wecken und somit das zukünftige Zusammenleben der beiden Kontrahenten verbessern? „In den meisten Strafverfahren ist dafür kein Platz“, meint Peter Lippmann, einer von drei Sozialarbeitern der Stelle „Dialog“. Diese Stelle wurde 1991 von der Senatsverwaltung für Justiz eingerichtet und versucht, die hinter einer Straftat stehenden Konflikte zu klären, indem das Opfer und der Täter direkt miteinander sprechen.
Bernhard D. wird dadurch klar, daß seine Nachbarn ihn keineswegs absichtlich terrorisierten, sondern daß es ihnen in der hellhörigen Altbauwohnung kaum möglich ist, sich geräuschlos aufzuhalten. Aber auch Dieter R. und seine Frau bemerken, daß sie unbeabsichtigt zu laut sind und versprechen, in Zukunft auf den Geräuschpegel in ihrer Wohnung zu achten. „Im Ausgleichsgespräch stellen beide Seiten ihre Situation vor der Tat, den Tathergang und die Tatfolgen dar. Dabei wird der anderen Seite oft einiges bewußt“, sagt Annemarie Brömel von „Dialog“. Täter und Opfer kommen dabei oftmals zu erstaunlichen Lösungen. So haben junge Graffiti- Sprayer, deren „Kunstwerk“ an einer Hauswand dem Hausbesitzer gar nicht gefiel, selbst mit Pinsel und Farbe dafür gesorgt, daß die Hauswand wieder jungfräulich erstrahlte. „Nach einiger Zeit legte der Hausbesitzer selbst mit Hand an und sie hatten sogar Spaß am gemeinsamen Renovieren“, schildert Brömel.
Unverhofft zu einem Theaterbesuch kamen drei andere Täter. Sie hatten einen 20jährigen brutal zusammengeschlagen und ausrauben wollen. Dieser war vor dem Gespräch auf die drei äußerst wütend. Sie sollten ihm die Tat „teuer bezahlen“. Letztlich verlangte der Überfallene, der selber an einem Theater beschäftigt ist, neben einer symbolischen Zahlung von 100 Mark je Täter nur, daß diese sich mit ihm gemeinsam ein Theaterstück ansehen, in dem es auch um Gewalt und Toleranz ging.
Doch der Täter-Opfer-Ausgleich ist nicht nur vorteilhaft für die Täterseite. „Oftmals haben die Opfer Angst, zum Beispiel vor einem bestimmten Platz, an dem sie überfallen wurden oder aber vor dem konkreten Täter. Sie haben ihn oft als ein Monster in Erinnerung und wollen die Tat am liebsten verdrängen“, sagt Brömel. Doch die Erlebnisse wirken unterschwellig weiter und eine direkte Konfrontation kann manchmal erst zu einer wirklichen Verarbeitung des Erlebten führen.
Vor dem eigentlichen Vermittlungsgespräch führt je ein Mitarbeiter von „Dialog“ ein Vorgespräch mit dem Opfer und dem Täter. „Erst wenn wir den Eindruck haben, daß beide Seiten zu einer wirklichen Kooperation bereit sind, laden wir sie zu einem Ausgleichsgespräch ein“, sagt Brömel. In dem Gespräch sind die beiden Vermittler aber keine AnwältInnen „ihrer“ Partei. Sie begreifen ihre Rolle als Moderatoren, wobei sie ihrem jeweiligen Klienten aufgrund ihres detaillierten Wissens aus dem Vorgespräch besser helfen können.
Die Betroffenen handeln untereinander eine Wiedergutmachung aus. Die Vermittler greifen nur ein, wenn beide Seiten nicht weiter wissen. „Wir achten auch darauf, daß niemand über den Tisch gezogen wird und vor allem, daß das Opfer zu seinem Recht kommt. Wenn es auf eine Bestrafung verzichten will, so gucken wir ganz genau, daß dieses auch wirklich aus freien Stücken passiert. Aber auch der Täter soll nicht über Gebühr belangt werden. Es geht nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit“, sagt Lippmann. Die Wiedergutmachungsvereinbarung wird schriftlich festgehalten und dem Gericht zugeleitet. Die Gerichte halten sich zumeist daran. Eine weitere Strafverfolgung ist durch einen gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich zwar nicht ausgeschlossen, aber er wirkt auf jeden Fall strafmildernd.
Bisher ist bei „Dialog“ erst ein einziges Ausgleichsgespräch gescheitert. Die fast hundertprozentige Erfolgsquote gibt der Arbeit also recht. 1994 moderierten die Mitarbeiter von Dialog 53 Ausgleichsgespräche. Oftmals kommen Gespräche jedoch nicht zustande, weil die Täter- beziehungsweise Opferseite nicht dazu bereit ist, oder aber, weil der Fall für einen Täter-Opfer-Ausgleich ungeeignet ist.
Generell ungeeignet sind Vergewaltigung und sexueller Mißbrauch, wegen der unzumutbaren erneuten Konfrontation des Opfers mit dem Täter. Außerdem sind Tötungsdelikte und Wirtschaftskriminalität/ Drogenkriminalität ausgeschlossen: Bei Mord oder Totschlag gibt es keine Opfer mehr, bei Drogen oder Wirtschaftsverbrechen trifft es nicht eine einzelne Person. „Wir können hier ja nicht den Finanzminister Waigel einladen“, erklärt Lippmann.
Doch die für den Täter-Opfer- Ausgleich geeigneten Fälle definieren sich nicht nur über die Art des Delikts. „Voraussetzung ist, daß neben einem geschädigten Opfer der Sachverhalt eindeutig ist und von beiden auch so gesehen wird – man braucht gar nicht anzufangen, wenn der Täter nicht zu seiner Tat steht – und das Opfer sowie Täter freiwillig am Ausgleich teilnehmen“, erklärt Brömel.
Normalerweise erhält „Dialog“ seine Fälle über Staatsanwälte, Gerichte oder über die Polizei. Man kann sich aber auch ohne die Initiative einer offiziellen Stelle um einen Täter-Opfer-Ausgleich bemühen. Wer ein Strafverfahren anhängig hat, kann sich gerne an „Dialog“ wenden, denn im Moment sind noch Kapazitäten frei. Ina Rust
Dialog befindet sich in der Schönstedtstraße 5 im Bezirk Wedding und ist telefonisch unter 46 001-258 oder 46 001-277 zu erreichen.
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