: Wert-frei statt wert-los
■ betr.: „Kreativ gegen radioaktiv“, taz vom 14. 7. 95, „Autos gehen vor Menschenrechte“, taz vom 13. 7. 95, „Waffenbrüder“, taz vom 17. 7. 95, „Blaues Auge für den BND“, taz vom 18. 7. 95, „Eine Grundsa nierung mit radikalem Abriß“, taz vom 18. 7. 95
Wieso regen sich immer noch so viele Menschen über die Entscheidung des wirtschaftlich-politischen Komplexes auf? Ist es der fehlende Realtitätssinn durchschnittlich gebildeter BürgerInnen der westlichen Wohlstandsgesellschaften, wenn sie immer noch längst überholten „Werten“ wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität und universelle Menschenrechte nachhinken? Ist es purer Egoismus, wenn sie penetrant nach sauberer Luft, giftfreiem Wasser, nicht genmanipulierten und unverseuchten Lebensmitteln schreien, ein möglichst langes Leben ohne Kriege in Freiheit und Würde selbstverantwortlich führen wollen? Als hätten wir nicht schon jetzt zu viele Menschen auf der Erde, zu viele arme, kranke, alte oder aus anderen Gründen nicht mehr voll produktions- und konsumfähige SolidarleistungsempfängerInnen! Nur die Entscheidungsträger in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik haben diese Probleme erkannt und handeln entsprechend: wert-frei statt wert-los heißt das eigentlich gar nicht so neue Paradigma, das nun aber konsequent und unverhohlen umgesetzt wird, weltweit!
So nimmt zum Beispiel Chirac innovativ die Herausforderungen der Zukunft an und läutet in der Südsee eine neue Runde des allgemeinen atomaren Auf-, Wett- und Nachrüstens ein, der sich die anderen Freunde und Feinde natürlich nicht entziehen werden können. Das sichert weltweit Arbeitsplätze und gibt den sich sonst nur nutzlos und teuer vorkommenden Menschen in den verbliebenen Kolonien die Gelegenheit, ihren Solidarbeitrag fürs Mutterland und die Weltwirtschaft zu leisten. Vorbei sind die Zeiten, als noch gesunde, solvente BürgerInnen im Mutterland (zum Beispiel USA) zu Testzwecken atomar verseucht werden mußten. Bei uns zu Hause soll demnächst nur noch an Behinderten ohne deren Einwilligung geforscht werden dürfen, wenn es nach der neuen EU-Bioethik- Richtlinie geht. Zunächst einmal, denn im jeweils „nationalen Interesse“ ist durchaus die Integration weiterer Personengruppen in diesen Kon-Solidarpakt denkbar, zum Beispiel chronisch Kranke, Langzeitarbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen. Vorbei ist auch die Zeit, in der in Demokratien teure Vorsorgemaßnahmen, gekaufte Gutachten und unpopuläre Castor-Transporte sowie ungeklärte Leukämie-Fälle die volle Entfaltung der friedlichen Nutzung der Kernenergie im Wege standen. Demnächst wird ausreichend günstiger Deponieraum für die Endlagerung ausgedienter Brennstäbe in fernen Freiluft-Entsorgungsparks zur Verfügung stehen, ohne daß dafür extra die Umwelt verstrahlt werden müßte.
Aber auch Deutschland sieht nicht tatenlos zu, wie die Weltbevölkerung unaufhörlich wächst, immer mehr Menschen immer älter und immer teurer werden. Es dealt mit russischem und Garchinger Plutonium, strebt (Atom-) Energiekonsens an, erläßt Placebo-Gesetze à la Ozon, will gesetzliche Grenzwerte für Pestizide im Trinkwasser ganz streichen, verkauft beliebige Waffen bevorzugt an befreundete (Militär-)Diktaturen armer und daher Migranten produzierender Staaten und beglückt das bevölkerungsreichste Land der Welt mit Mercedes. Wenn dadurch das Ozonloch wie erwartet weiterwächst, trifft es zahlenmäßig schließlich die Chinesen wohl auch am härtesten. Generell sterben ja auch zuerst mittellose Kinder, Alte und Kranke an zu hohen UV-Dosen, vergifteter Luft, Boden und Wasser und verseuchter Nahrung; das schafft freie Kindergarten- und Seniorenheimplätze und hilft, die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Und wenn das alles noch nicht reicht, können wir uns tod-sicher auf das Atom verlassen!
Also liebe MitbürgerInnen, die Zukunft hat begonnen. Vergeßt den letzten Rest an Protest. Auch der erzwungene Verzicht auf die Versenkung der Brent Spar wird nichts bringen außer unnötigen Kosten. Vergeßt einfach die Leiden der Menschen in Tibet, Kurdistan, Bosnien, Polynesien, Tschetschenien und anderen zahlungsunfähigen Ländern. Hört nicht auf die unverbesserlichen Weltverbesserer von amnesty international, Greenpeace, Worldwatch und wie sie alle heißen. Denn Ärger macht krank und vielleicht sogar arbeitslos. Und dann geht euer „Arbeitsmarktwert“ sehr schnell in den Keller! Freut euch doch lieber, daß ihr noch gesund seid und genießt es, so lange es geht. Und wenn euch eure Enkel einmal fragen, warum ihr denn nichts gegen die vorhersehbare Umweltkatastrophe und den erkennbaren Genozid der Gattung Mensch getan habt? Dann beschämt ihr die Grünschnäbel mit dem Hinweis auf deren „Gnade der späten Geburt“. Ferner gesteht ihr ein, daß die Sache mit dem Atom zwar irgendwie blöd war, verweist aber gleichzeitig auf die Zuständigkeit der Wissenschaftler und Politiker, denen ihr vertraut habt. Denn das Vertrauen war gerechtfertigt, weil in der guten alten Zeit alle Menschen, die arbeiten wollten und konnten, sich alle nur denkbaren Dinge leisten konnten: Autos, Nahrung im Überfluß, auch aus „echten“ Lebensmitteln, und sogar eine medizinische Versorgung auf höchstem Niveau. Wer hätte da schon nein gesagt? Bernd Höppner, Freiburg
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