: „Wir setzen die Waffen ein, die wir haben“
Die türkische Armee führt in Kurdistan Krieg. Obwohl die Soldaten mit deutschen Waffen ausgerüstet sind, beteuert die Bundesregierung, dabei würde kein deutsches Kriegsgerät eingesetzt. Ein Gutachten beweist das Gegenteil ■ Von Thomas Klein
Bewertung der vorliegenden Fotos
Bei den auf den Fotos zu sehenden Militärfahrzeugen handelt es sich ausnahmslos um deutsche beziehungsweise aus deutschen Beständen gelieferte Fahrzeuge. Soweit bekannt, wurden die zehn aus Rußland an die Türkei gelieferten Schützenpanzer vom Typ BTR-60 PB nicht der deutschen Straßenverkehrsordnung gemäß mit Außenspiegel versehen. Die in Fachzeitschriften abgebildeten Schützenpanzer dieses Typs, wie auch zum Beispiel die im Fernsehen im Einsatz gegen tschetschenische Aufständische gezeigten, besitzen an der Wannenschräge rechts und links vorn Metallbügel, die bei den Ex-NVA-Panzern nach der deutschen Vereinigung zur Anbringung der auf Foto 3 zu sehenden Spiegel genutzt wurden, und damit ein Erkennungsmerkmal der aus deutschen Beständen gelieferten Schützenpanzer sowjetischer Fertigung.
Bewertung von Zahlen und Daten (ab 1990)
Die türkischen Streitkräfte sind zu einem ganz erheblichen Anteil mit deutschen beziehungsweise aus der Bundesrepublik Deutschland gelieferten Waffen (zum Teil US- amerikanischer Fertigung und in europäischer Produktion mit Beteiligung deutscher Firmen hergestellt) ausgestattet. Der Aufbau einer eigenständigen türkischen Rüstungsindustrie wurde erst ab 1985 mit der Gründung eines Investitionsfonds systematisch vorangetreiben, und erst in jüngster Zeit wurden die zu über 95 Prozent mit US-amerikanischen und deutschen Waffen ausgestatteten Streitkräfte auch in relevantem, nennenswertem Umfang aus türkischer Produktion (vielfach in Lizenz und im Rahmen von Joint- venture-Geschäften) versorgt. Bei den in den letzten fünf Jahren zu verzeichnenden zwischenstaatlichen Rüstungsgeschäften und den kostenlosen Waffenlieferungen im Rahmen von Material- und Nato- Verteidigungshilfen ist eine Spitzenstellung von USA und Deutschland sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht überdeutlich.
Betrachten wir die einzelnen Posten bei der Ausrüstung der Landstreitkräfte im angegebenen Zeitraum, so ergibt sich, aufgeschlüsselt nach Lieferländern, folgendes Bild:
Kampfpanzer und
gepanzerte Fahrzeuge
USA: 88 Prozent
BRD: 10 Prozent
Italien: 1,8 Prozent
Rußland: 0,2 Prozent
Bei den aus Rußland gelieferten Panzern handelt es sich um 10 Schützenpanzer des Typs BTR-60 PB, von denen die Türkei zuvor 300 Stück aus Deutschland erhalten hat. Außerdem erhielt die Türkei aus deutschen Beständen Leopard I-A1- und M-44-Panzer.
Artillerie
BRD: 58 Prozent
USA: 42 Prozent
Hubschrauber
USA: 87,5 Prozent
Rußland: 12,5 Prozent
Luftabwehrsysteme
USA: 93 Prozent
BRD: 7 Prozent
Infanteriebewaffnung
BRD: 100 Prozent
ABC-Ausrüstung
BRD: 100 Prozent
Die bei diesem und dem vorherigen Posten zustandekommende Zahl hat mit der Überlassung von Rüstungsgütern in bis dahin nicht erreichtem Ausmaß aus Beständen der ehemaligen NVA zu tun, die bei einzelnen Posten den Charakter einer kompletten Grundausstattung erreicht. Bei der Aufschlüsselung der Herkunftsländer einzelner Waffengattungen hat zuletzt eine Verschiebung von den USA als Hauptlieferanten zur Bundesrepublik stattgefunden.
Militärische Nutzfahrzeuge
BRD: 83 Prozent
USA: 17 Prozent
Sonstige Rüstungsgüter/
Ausrüstungsgegenstände
USA: 96 Prozent
BRD: 4 Prozent
Eine ernstzunehmende Bewertung der Frage, ob deutsche oder aus deutschen Beständen gelieferte Waffen in der Vergangenheit und aktuell bei den militärischen Operationen der türkischen Streitkräfte eingesetzt werden, kann nur zu diesem Ergebnis kommen: Schon bei kleinen, lokal begrenzten militärischen Operationen der türkischen Armee, ist die Behauptung türkischer und deutscher Regierungsmitglieder, deutsche Waffen seien dabei nicht im Einsatz, äußerst unglaubwürdig, wenn auch im Einzelfall nicht jeweils als Unwahrheit belegbar. Eine militärische Operation mit 35.000 Soldaten, wie sie im Frühjahr im Nordirak stattfand, ist ohne Einsatz deutscher und aus der Bundesrepublik Deutschland gelieferter Waffen gar nicht realisierbar, es sei denn als militärische Nonsens-Aktion – denn in der Praxis hieße die Umsetzung eines solchen Vorhabens, keine deutschen und aus der Bundesrepublik gelieferten Waffen einzusetzen, nichts anderes als eine erhebliche Teilentwaffnung, bei bestimmten Waffengattungen eine fast komplette Entwaffnung der türkischen Landstreitkräfte. Bei einer tatsächlichen Umsetzung dieser in und gegenüber der Öffentlichkeit von verantwortlichen Politikern geäußerten Behauptung, hätten die türkischen Truppen bei ihrem Einmarsch in den Nordirak, bildlich gesprochen, an der Landesgrenze riesige Waffenberge zurücklassen müssen.
Resümee
Die Vorstellung, die türkische Armee verzichte bei ihren militärischen Operationen, sei es im eigenen Land, sei es jetzt bei der Invasion im Nordirak auf den Einsatz deutscher oder aus der Bundesrepublik Deutschland gelieferter Waffen, mag für Laien, die sich in der Materie nicht auskennen, möglicherweise nicht abwegig sein. Eine ernstzunehmende, seriöse Würdigung der Fakten und die Prüfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel (aktuell: der jetzt vorliegenden Fotos), muß zu einem anderen Schluß kommen: Selbst bei der Unterstellung des politischen Willens der türkischen Seite, den bestehenden Vertragsbedingungen gerecht zu werden, ist die Nichtverwendung aus der Bundesrepublik Deutschland gelieferter Waffen praktisch nicht umsetzbar. Die Unterstellung dieses politischen Willens entspricht im übrigen nicht der Realität. Von türkischer Regierungsseite sind dazu in den letzten Wochen unmißverständliche Äußerungen zu vernehmen gewesen, unter anderem: „Wir setzen die Waffen ein, die wir haben“, so die Regierungschefin Tansu Çiller. Die Beweismittel belegen das. Nach Prüfung der Fotos und Fakten steht zweifelsfrei fest: Deutsche und aus der BRD gelieferte Waffen sind in den kurdischen Provinzen in der Türkei und im kurdisch verwalteten Gebiet im Nordirak im Einsatz.
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