: Die Öko-Bibel frisch auf den Tisch
■ Turboforelle, Frostschutz-Lachs und High-Tech-Frühstücksei: Der Klassiker "Chemie in Lebensmitteln" ist der schönen neuen Welt der Food-Designer auf der Spur. Erfolgreich. Fast 400.000 Exemplare wurden v
Die Öko-Bibel frisch auf den Tisch
Dürfen wir Pilze wieder aufwärmen? Ja, wir dürfen, wenn die Reste gut verschlossen im Kühlschrank aufbewahrt und sie beim Aufwärmen „schnell und gründlich erhitzt“ werden. Wie viele Blüten braucht's für ein Kilo Honig? Ein Kilo entspricht 20.000 Honigblasenfüllungen, wofür das Bienenvolk fünf Millionen Blüten anfliegt und 10.000 Flugkilometer zurücklegt. Warum wird so oft über Ketchup gemosert? Weil Stichproben ergaben, daß häufig vergammelte Tomaten verwendet werden: Im Labor wurde das von Schimmelpilzen gebildete „Ergosterin“ gefunden, untrüglicher Fäulnis-Indikator.
Wieviel Salz braucht der Mensch, wie viele Pestizide sind im Kopfsalat, warum werden Forellen mit Ratten-Hormonen gedopt, Lachse mit Anti-Frost-Genen ausgerüstet?
All dies und noch viel mehr beantwortet ein Buch, das mit knapp 400.000 Exemplaren zu den meistverkauften Sachbüchern im Lande gehört. Jetzt steht bei „Zweitausendeins“ die 50. Auflage bevor. Die Öko-Bibel „Chemie in Lebensmitteln“ des Kölner Katalyse- Instituts für angewandte Umweltforschung ist damit jenseits aller Konjunkturen zum Dauerbrenner geworden. Wo andere Öko-Lexika bleischwer in den Regalen liegen, läuft der Klassiker unverändert gut. „Wir alten Esel“, erklärt Lektor Martin Weinmann den ungebrochenen Erfolg, „unterschätzen das Interesse der Jüngeren an solchen Themen.“
Vor vierzehn Jahren begann die Erfolgsstory des Buches, das im kleinen Alternativ-Verlag „Kölner Volksblatt“ startete. Eigentlich, erinnert Katalyse-Sprecher Thomas Pettinger, wollte man damals „irgendwas über Luftverschmutzung“ publizieren, aber es fand sich kein passendes Thema. So landete das Institut über Umwege beim Lebensmittel.
Ein Ausguß, Teller, Löffel und Pfeffermühle zierten das Ursprungscover, darüber der Titel in Giftgrün. Schwerpunkt des Buches war damals die große Verseuchung: Cadmium, Blei, Quecksilber, Nitrat, Pestizide – alles drehte sich ums Gift. Aber schon mit der ersten Auflage hatten die Autoren geschworen, sie wollten „niemandem den Appetit verderben“, sondern „mithelfen, die Vergiftung zu verhindern“. Ob mit oder ohne Appetit: das Buch wurde zum Hit, die Katalyse-Gruppe zu einem Teil der neuen Alternativ-Kultur, beides zusammen entwickelte sich zu einem Stück „Wissenschaft von unten“.
Über die Jahre wurde zunächst der Verlag gewechselt – die Volksblatt-Leute fanden das Thema „zu unpolitisch“ –, jetzt auch der Titel: Aus der Chemie ist die „neue Chemie“ in Lebensmitteln geworden. Nicht mehr die Verseuchung, sondern die Technologie ist das große Thema, die Degeneration und Manipulation von Lebensmitteln, das Food-Design mit Hilfe raffinierter Bearbeitungsmethoden, einem Cocktail von Zusatzstoffen und dem Einsatz der Gentechnik. Was vor hundert Jahren „mit Suppenwürfeln, Trockenkartoffeln und Erbswurst begann, entwickelte sich zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig“, schreibt das Autorenteam.
Welche Höhenflüge die Herstellung von Lebensmitteln inzwischen erreicht hat, zeigt das Beispiel der Kunstkrabbe: Unverkäufliche „Nebenfischarten“ werden auf den Schiffen von Kopf, Schwanz und Gräten befreit, das Fleisch mit Natriumbicarbonat ausgewaschen, mit Polydextrose und Sorbitsäure behandelt und tiefgefroren. Im Hafen wird der Fisch mit Binde-, Gelier- und Prozeßhilfen für die Pressung vorbereitet. Krabbenähnliche Aromastoffe aus dem Labor und ein Schuß roter Farbe runden die Komposition ab: Fertig ist die High-Tech-Krabbe (Surimi).
In dem jetzt 540 Seiten dicken Buch hat sich auch der Tonfall geändert. Der Agitationscharakter ist längst verschwunden, es wird nüchtern, aber engagiert berichtet. Zwischen Alarmismus und Beschönigung haben die Autoren „eine souveräne Mittellage“ gefunden, glaubt Lektor Weinmann.
Geblieben ist der Kochbuch- Charakter des Buches: Zu jedem einzelnen Lebensmittel (Milch, Honig, Fleisch, Tee etc.) gibt's ein eigenes Kapitel, das von der Kulturgeschichte bis zur Gentechnik reicht. Über die Inflation neuer Zusatzstoffe von E 101 (Lactoflavin) bis E 1422 (Acetyliertes Distärkeadipat) wird am Ende in einem neuen Kapitel berichtet, ebenso über Küchengeräte.
Daß der Appetit beim Lesen nicht besser wird, muß heftig bedauert werden. Auch dies gehört zu den Konstanten des Buches, liegt indes nicht in der Verantwortung der Autoren, sondern an der weltweiten Seuche des Fast-, Junk-, Gen- und High-Tech-Food.
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