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Der Kardinal und die verbotenen Früchte

Polens oberster Kirchenrepräsentant, Jozef Glemp, beschuldigt den Westen, sein Land schwächen zu wollen: Bei einem Beitritt zur Europäischen Union drohe ein Verfall der Moral  ■ Von Ludwig Mehlhorn

Kardinal Jozef Glemp, als Primas der höchste Repräsentant der katholischen Kirche Polens, hat über den Westen erneut klare Worte gefunden. Die Europäische Union ist für ihn ein „Garten verbotener Früchte“, und für den Fall des Beitritts seines Landes sieht er die Gefahr, seine Landsleute könnten sich „dressieren“ lassen und ihr Streben nur noch auf „leichtere Arbeit, gutes Essen, Vergnügen und Sex“ lenken. Die moralische und nationale Identität Polens stehe auf dem Spiel.

Die jüngste Predigt des Primas in Jasna Gora läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, eine Überraschung ist sie indessen nicht. Die Auseinandersetzung über die Gestalt des öffentlichen Lebens im demokratischen Staat, die Rolle der Kirche in einer pluralen Gesellschaft und Polens Platz in der internationalen Gemeinschaft ist seit der demokratischen Wende von 1989 im Gange und – wie die Predigt des Primas belegt – keineswegs beendet. Die vielleicht wichtigste Konsequenz besteht darin, daß Polen auch sechs Jahre nach dem Umbruch noch immer über keine neue Verfassung verfügt, sondern mit einem inzwischen zigfach novellierten Torso der alten, aus kommunistischen Zeiten stammenden Verfassung lebt. Der Versuch christlich-nationaler Parteien, in der Verfassung das staatliche Handeln an nicht näher definierte „christliche Werte“ zu binden, und der Widerstand dagegen sind Gründe für die noch immer anhaltende Blockade im Prozeß der Verfassungsgebung.

Eines kann man jedoch festhalten: Der Versuch von Teilen der Kirche, in Polen nach der kommunistischen Ära einen theokratischen Staat zu schaffen, ist von der Gesellschaft zurückgewiesen worden. Dies haben die Konflikte über den Religionsunterricht an den Schulen und die Abtreibung ebenso gezeigt wie die Debatte über die strategischen außenpolitischen Orientierungen. Daß Polen die Integration in den Westen anstrebt, ist bei den maßgebenden politischen Kräften unumstritten. Es waren gerade aus der früheren demokratischen Opposition kommende katholische Politiker wie Tadeusz Mazowiecki und Krzysztof Skubiszewski, die die entscheidenden Pflöcke für Polens Integration in den europäischen Westen einschlugen. In der europäischen Orientierung sahen sie nicht wie Primas Glemp in erster Linie eine Bedrohung der polnisch-katholischen Identität, sondern – so Außenminister Bartoszewski in seiner Bonner Rede zum Kriegsende – ein „kollektives Symbol fundamentaler Werte und Grundsätze“, das „vor allem für die Freiheit des einzelnen und die politischen und ökonomischen Menschenrechte“ steht.

In der kommunistischen Epoche war die Kirche der Zufluchtsort für eine Kultur, die sich nicht manipulieren lassen wollte. Nach 1989 endete diese Kampfsituation abrupt. Kirche und Theologie sehen sich einer liberalen, offenen Gesellschaft mit ihren konkurrierenden kulturellen Angeboten und ethischen Wertorientierungen gegenüber und müssen ihren gesellschaftlichen Ort neu bestimmen. Der wirtschaftliche und zivilisatorische Modernisierungsprozeß verlangt zugleich nach einer „moderneren“ Religiosität.

So gesehen sind Glemps Äußerungen eine Stimme in der innerkirchlichen Debatte. Der Kardinal spricht nicht für den gesamten polnischen Katholizismus, er repräsentiert vielmehr den äußersten konservativen Pol. Dieses Lager versucht, sich dem Modernisierungsprozeß entgegenzustellen, und hat in den bäuerlichen Schichten noch immer einen starken Rückhalt. Andere Teile der Kirche – wie etwa Ordensgemeinschaften, die den internationalen Jugendaustausch aktiv fördern – sehen in der europäischen Zusammenarbeit längst ein lohnendes Betätigungsfeld. Wieder andere nehmen sich auch gegen Widerstände in der Gesellschaft der neuen sozialen Fragen an – etwa der Aidshilfe oder der Flüchtlingsbetreuung.

Hierzulande mögen die Äußerungen des Primas für die einen ein Ärgernis sein, für andere, die in Polens Kirche ohnehin nur eine Bastion des Okkultismus sehen, eine Bestätigung ihrer Vorurteile. Absolut sicher ist indessen, daß Glemp nicht als Kronzeuge für wachsende antieuropäische Einstellungen in der polnischen Gesellschaft interpretiert werden darf. Die Tendenz der Meinungsumfragen ist in dieser Hinsicht eindeutig. Die Polen vor den „verbotenen Früchten“ der EU schützen zu wollen – das wäre das untauglichste Argument der Westeuropäer, die Integration der ostmitteleuropäischen Staaten auf die lange Bank zu schieben.

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