: "Blavatzkys Kinder" - Teil 35 (Krimi)
Teil 35
Reuter grübelte. Der Schlüssel schien die amerikanische Connection zu sein. Bob, ein alter Freund aus der Zeit, als Reuter in den USA studierte, arbeitete im Finanzministerium. Ein Konservativer, aber anständig. Es war fast sechs Uhr morgens und in Washington D.C. kurz vor Mitternacht. Morgen war auch noch ein Tag. Er war hundemüde.
Zweieinhalb Stunden nachdem er die Bank verlassen hatte, stellte Reuter sein Coupé neben dem Blockhaus ab. Morgen war Freitag. Seine Frau war mit ihrer gemeinsamen Tochter bei ihren Eltern. Er hatte einen ruhigen langen Tag vor sich. Schlafen, Reiten, mit Bob telefonieren.
Gustav hielt fünfzig Meter hinter dem Blockhaus, schaltete noch vor Reuter seinen Motor aus und griff zum Telefon.
„Ja, ich bin's. Wir haben ein Problem. Neue Figur im Spiel. Ja, noch einer. Ich melde mich noch einige Stunden ab und versuche, mehr rauszukriegen. Du bleibst an dem Computerheini, klar? Ich melde mich.“
Gustav ließ den Wagen anrollen. Er würde im nächsten Dorf warten, bis er irgendwo ein Frühstück bekam. Sich zum Schein einquartieren. Jemanden finden, der gern redete.
Die Kellnerin kannte den Mann, der das schöne Haus bewohnte. Reuter hieß er, ein Banker aus Frankfurt. Ja, er war oft da. Fast jedes Wochenende und oft auch einfach mal so. Im Goldenen Schwan holte er seine Getränke und aß auch oft hier. Morgens ritt er immer aus. Morgen war Samstag. Da würde er bestimmt bis Sonntag bleiben. Die schönsten Strecken zum Reiten? Ach, er hatte auch ein Pferd?
Gustav telefonierte von seinem Zimmer aus.
* * *
Deger vertrat auch die rumänische, die polnische, die kroatische und die russische Sektion. Die offizielle Begründung war, daß die befreundeten Organisationen aus Rumänien, Polen, Kroatien und Rußland noch zu schwach waren und erst in einiger Zeit aufgenommen werden könnten, wenn sie sich stabilisiert hatten. Der wirkliche Grund waren die Bedenken der Deutschen. Gates ahnte das, ließ Deger aber agieren.
Die Spezialität der polnischen Sektion waren Greifkommandos, die nach sorgfältigen, tagelangen Beobachtungen Kinder von der Straße auflasen. Es wurden nur Kinder ausgewählt, die ihren hochentwickelten genetischen Gesichtspunkten genügten.
Die kroatische Organisation war der deutschen in unbedingter Loyalität verbunden. Alte Achsen hatten sich in Windeseile wieder hergestellt. Deger hatte den Krieg auf dem Balkan genutzt und große Teile seiner Soldaten zu praktischen Übungen hinuntergeschickt. Es hatte den Jungs gutgetan – besser als jedes Manöver. Die Jungs, sofern sie aus der früheren DDR stammten und bei der Nationalen Volksarmee (NVA) gedient hatten, waren erstaunt gewesen, in Kroatien mit Waffen ausgerüstet zu werden, die sie zum Teil schon früher in der Hand gehabt hatten.
Der Chef der britischen Organisation betrat den Konferenzsaal. Er hatte Zeitungen besorgt und hielt eine englische Tageszeitung hoch.
„Liebe Freunde. Gleich zwei Nachrichten, die Sie interessieren werden. Einmal gibt es in Europa, besonders in Deutschland, eine neue Debatte. Man will den Gehirntod durch den Teilhirntod ersetzen, um mehr Organe zu beschaffen. Das wird wirklich harte Konkurrenz für uns, meinen Sie nicht?“
Die Konferenzteilnehmer lachten. Er fuhr fort: „Die zweite Nachricht kommt aus Dänemark. Wir haben wirklich überall Freunde im Geiste. Hier schreiben zwei Wissenschaftler: ,Nach unserer Auffassung scheint es ganz natürlich zu sagen, daß die Organe lebendiger Personen lebenswichtige Gesundheitsressourcen sind, die wie alle anderen lebenswichtigen Ressourcen gerecht verteilt werden müssen. Wir könnten uns daher gezwungen sehen, darauf zu bestehen, daß alte Menschen getötet werden, damit ihre Organe an jüngere kranke Personen umverteilt werden können, die ohne diese Organe bald sterben müßten. Schließlich benutzen die alten Menschen lebenswichtige Ressourcen auf Kosten von bedürftigen jüngeren Menschen.‘ Sie sehen, meine lieben Freunde, man nähert sich uns immer mehr an. Ältere Menschen für jüngere. Schwächere für stärkere. Wertlose für wertvolle. So soll es sein.“
* * *
Sie stand vor dem Mehrfamilienhaus in Altona und sah auf die Klingelanlage: McLeod. Es brummte, und sie stieß die Tür auf.
„Sechster Stock“, rief Robert über die Sprechanlage. Die Griffleiste des spießigen Treppengeländers aus Metall war mit blaßgrünem Plastik übermantelt. Die Wände kalkweiß mit einer Prise Ocker. Robert stand vor der Tür. Sie sahen sich an und lächelten.
„Hej“, sagte Miriam.
„Schön, daß du da bist. Komm rein.“ Sie sah sich neugierig um. Ein kleiner quadratischer Flur, zwei Paar Schuhe vor einem fast leeren Garderobenständer. Die Wände tapeziert mit alten Jazzplakaten. Links vom Flur das Schlafzimmer: als Bett ein breites, niedriges Holzgestell mit Futon, roter Teppichboden, ein alter, abgeschabter lederner Ohrensessel, ein kleiner einfacher Schreibtisch, Bücher. Die Tür zur Küche war geschlossen.
Der Wohnraum war schwarz und rot gestrichen. Am Boden lagen rechteckige, dicke rote und schwarze Polster. Bis zur Zimmerdecke reichten die Regale mit Schallplatten und CDs. In der Ecke lehnte ein Saxophon.
In der anderen Ecke fand sie eine Staffelei, einen Notenständer, auf dem Boden und in den Regalen Bücher, Notizen und Zeitungen.
Fortsetzung folgt
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