: Lieber tot als dick
Die Großdealer sitzen im Knast, große Mengen Stoff sind sichergestellt, aber die Junkies stehen weiter Schlange. Trotz aller Horrormeldungen im Diätpillenskandal geht das Geschäft mit den Schlankmachern weiter. Der Schlankheitswahn treibt vor allem Frauen in jede erdenkbare Diät, ungeachtet aller Gefahren
Die Justiz erwartet eine beispiellose Prozeßflut. 12 Ärzte, 17 Apotheker und eine unübersehbare Zahl von Kleindealern in Friseursalons, Fitneßstudios und Kaffeekränzchen werden im Diätpillenskandal beschuldigt. Ihrer dicken Klientel haben sie im großen Stil lebensgefährliche Schlankmacher verschrieben und verkauft. Allein in Berlin haben sich bis gestern rund 400 Geschädigte bei den Ermittlern gemeldet.
Doch während der Skandal tobt, geht das Geschäft weiter. Unverdrossen werden legale und illegale Pillen in den Apotheken nachgefragt, berichtete am Montag der Präsident der Apothekenkammer, Hartmut Schmall. Viele Kundinnen zeigen sich unbelehrbar. Dann werde sie eben „eher sterben, aber schlank sein“, zitiert der Kölner Stadtanzeiger eine Frau, die weiter ihre Dröhnung schluckt – trotz der sieben Todesfälle, die inzwischen im Zusammenhang mit den Diätpillen untersucht werden.
Was da von den Ärzten Coesens (Luxemburg), Jansen (Euskirchen) und Co. im Rahmen ihrer Therapiefreiheit – Kritiker sprechen von Narrenfreiheit – verschrieben und von willigen Apothekern zusammengerührt wurde, ist tatsächlich lebensgefährlich.
Nach Analysen der Ermittler sind unter anderem die Wirkstoffe Metformin und Fenfluramin, Schilddrüsenhormone und Entwässerungsmittel in den Pillen enthalten – „hochwirksame Substanzen, die massiv den Stoffwechsel beeinflussen“, so Wolfgang Becker-Brüser vom Berliner Arznei- Telegramm.
Das Anti-Diabetikum Metformin wurde Zuckerkranken verordnet, ist aber wegen „Stoffwechselentgleisungen“ weitgehend vom Markt verschwunden. Im Medikamentenführer „Bittere Pillen“ heißt es: Nur „unter strenger Beobachtung, nicht bei Patienten über 70 Jahre“. Als Nebenwirkungen werden neben Erbrechen, Übelkeit und Magenschmerzen auch eine „Milchsäure-Überzuckerung des Blutes“ genannt, „die tödlich enden kann“. Auch die Gewichtsabnahme gehört zu den „Nebenwirkungen“ des Medikaments. Es handelt sich also keineswegs um einen originären Schlankmacher – soweit es diesen überhaupt gibt.
Schilddrüsenhormone sind ebenfalls Medikamente, die heftig in den Körperhaushalt eingreifen. Künstliche Hormongaben wirken wie die Überfunktion der Schilddrüse: Die Verbrennung des Körpers wird verstärkt, die gesamte Maschine läuft hochtouriger mit Nervosität, erhöhter Herzfrequenz, Verdauungs-, Kreislaufprobleme – und Gewichtsabnahme.
Fenfluramin ist ein Aufputschmittel (Amphetamin), das nebenbei den Hunger vertreibt und deshalb als „Appetitzügler“ gilt. Doch die Wirksamkeit wird nach einigen Wochen schwächer, und mit erhöhter Dosis wächst die Suchtgefahr. Zudem sind die Nebenwirkungen beachtlich: Schlafstörungen, Nervosität, Durchfall bis zu Wahnvorstellungen. In den Niederlanden sind 13 Fälle von Psychosen durch Fenfluramin dokumentiert worden.
Wenn jedes einzelne Medikament schon gefährlich ist, dann wird aus dem Wirkstoff-Cocktail ein unkalkulierbares Gemisch. „Was Gefährlicheres kann man eigentlich nicht machen“, kommentiert Becker-Brüser die Methode der Pillenverschreiber, alles zu kombinieren, was der Giftschrank an Schlankmachern hergibt. Doch die Patientinnen haben zugegriffen. Der Leidensdruck ist größer als die Angst vor dem Risiko. Das zeigt auch der Blick auf den legalen Markt. 5,5 Millionen Packungen Schlankheitsmittel wurden 1993 hierzulande in den Apotheken verkauft. Rechnet man Diätdrinks, unterkalorische Fertigkost und andere „Fitmacher“ dazu, werden jährlich 500 Millionen Schlankheits-Mark ausgegeben. Und dies, obwohl sich ausnahmsweise alle Experten einig sind: Pillen und Drinks führen nur in den seltensten Fällen zu einer dauerhaften Gewichtsabnahme. Kaum abgesetzt, sind die Pfunde wieder drauf.
Der Anfangserfolg ist allerdings manchmal verblüffend. Schon nach wenigen Tagen können Entwässerungsmittel zu Gewichtsverlusten von mehreren Kilo führen – die Patientinnen schweben auf Wolke sieben. Was da verschwindet, ist allerdings kein Fett, sondern Wasser, das bald wieder ersetzt wird.
Ähnlich vergeblich wie der medikamentöse Angriff ist die Hungerkur. Jeder zweite Deutsche hat eine Diät hinter sich. Von den Frauen im mittleren Alter (30 bis 49) haben sogar zwei von dreien mit Diäten abgespeckt. Doch der Körper stellt sich auf einen geringeren Verbrauch um. Nach Absetzen der Diät kocht der Stoffwechsel trotz ausreichendem Energieangebot weiter auf Sparflamme, und das Gewicht schießt umso schneller nach oben – meist über die alte Marke hinaus. Diäten machen dick! Der alljährlich am Wolfgangsee diätierende Kanzler ist der unübersehbare Beweis für diesen Jo-Jo-Effekt.
Der Epidemie von Diätplänen tut dies keinen Abbruch. Frauen setzen sich nach wie vor größten Torturen aus, um ein paar Kilo loszuwerden. Operative Eingriffe mit Fettabsaugen gehören ebenso dazu wie Verdrahtungen des Kiefers als Eßbremse oder wochenlanger kaloriensparender Tiefschlaf durch Hypnose.
In Zukunft wird der Schlankheitswahn zunehmen. Und die Zahl der Dicken: Bis zum Jahr 2230, rechnen texanische Ernährungsforscher vor, werden 100 Prozent aller Amerikaner übergewichtig sein. Die leibliche Deformation als Antwort auf die soziale. Manfred Kriener
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