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„Tanz auf dem Omelett“

Die schrecklichste Woche des Rudolf Scharping – Chronik eines unvollendeten Rücktritts  ■ Von Bascha Mika und Thorsten Schmitz

Rudolf Scharping erfährt es als letzter. „Ich will nicht, daß die SPD Medienspielball wird“, skandiert er auf dem Parteitag Westliches Westfalen in Bottrop — und ist längst selbst einer. Die FAZ titelt: „Zweifel an Scharpings Fähigkeiten“. Auf 196 Zeilen wird der Kanzlerkandidat niedergenörgelt. Von den eigenen Genossen. Ziehvater Rau sei „verzweifelt“, niemand traue sich, Scharping „die Wahrheit zu sagen“, einige Landesverbände wetzten schon jetzt die Klingen für eine „Nacht der langen Messer“ beim SPD-Parteitag im November. Die Obersozis Karsten Voigt und Christoph Zöpel verlassen an diesem Wochenende fluchtartig den Parteivorstand. Grund: „Kommunikation gestört“.

Das muß Scharping am Sonntag aussitzen — auf dem Sattel. Drei Stunden radelt er durch den Taunus. So, und nur so, kann er Schlagzeilen (Bild am Sonntag: „Stürzt die SPD Scharping?“) und Schwermut entsorgen. Sowie die helle Heide hinter sich bringen. Bei Matjes und Rotwein in einem Kieler Restaurant hatte die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein den reputierlichen Rudi als „Autisten“ beschimpft. Über die Partei habe sich „tiefe Melancholie“ gelegt. Der SPD- Boß: „Spätestens nach dem zweiten Berg habe ich die vergessen.“

Erst am Nachmittag holt ihn die Leichtigkeit des Seins für kurze Zeit wieder ein. Für die „lieben Hörer“ legt Scharping im WDR-Hörfunk „Alberta“ von Eric Clapton auf. Dies Lied mag er, weil es „so schön fröhlich und beschwingt ist“. Das Wochenende, gesteht der Politiker am Mikrophon, habe „so richtig reingehauen“. Der Montag hat dieselbe Wucht. Das ZDF-Politbarometer mißt Scharping zu diesem Zeitpunkt ganz unten: In der Beliebtheitsskala rangiert er an letzter Stelle.

Doch er läßt sich offenbar gerne quälen und vom ARD-Chefredakteur abends zu einem Interview breitschlagen. Frage: „Wie lange müssen wir noch zählen, bis Sie k. o. sind?“ Gegenfrage: „Wozu haben Sie mich eingeladen? Um in der Soße herumzurühren, die andere angerichtet haben?“

Am Vormittag hatte sich das SPD-Präsidium für ein Scharping-Dressing entschieden — eine Partei, ein Boot. „Scharping mußte nicht ermuntert werden“, verkündete Rau nach Hühnerfrikassee und Reis, „aber er ist ermuntert worden. Ich glaube, daß er das Stehvermögen und die Gestaltungskraft hat. Ich trau es ihm zu, und ich will ihm gern helfen.“

Geschäftsführer Verheugen frohlockt: Die Lästermäuler hätten nun „wohl tief genug in den Abgrund geschaut“.

Hilfreich plötzlich auch die helle Heide: Sie entschuldigte sich für das, was sie wirklich dachte — und nahm den „Autisten“ zurück. Trotzdem wird Simonis als Kanzlerkandidatin in spe gehandelt.

Er macht so langsame Bewegungen, am Anfang war er doch quicklebendig, fuhr Rad und spielte Fußball. Dann wurde alles an ihm immer zeitlupenartiger. Ob er, dachten wir, aufgezogen werden muß mit einem großen Blechschlüssel, wie manche Spielzeugfiguren? So seziert das Streiflicht der Süddeutschen Zeitung den ruhenden Rudi. Und wieder spendet St. Johannes seinen Segen. „Der Tanz auf dem Omelett“, predigt Rau, „muß endlich aufhören.“ Drei Stunden später derselbe Rau: „Es liegt furchtbar viel Wortmüll auf dem Tisch.“ In der SPD-Fraktion bringt sich ein Abgeordneter aus dem Ortsverein Ingolstadt ein: „Die Funktionsträger werden aufgefordert, ihre Eitelkeiten aufzugeben.“ Scharping kämpft: „Wenn irgend jemand glaubt, den Vorsitzenden wie ein Stück Fleisch unter dem Sattel weichreiten zu können, der wird sich den Hintern wundreiten.“

Die Grünen sehen schwarz für Rot-Grün. „Wir werden künftig ohne Anlehnung an die Mutter SPD auszukommen haben“, unken sie und verabschieden sich von einer Koalition mit den Sozis. Joschka Fischer in der Kantine des Bundestags: „Wenn alles nicht so lustig wäre, wäre es ja zum Weinen.“

Kohl leckt sich genüßlich die Lippen. Auf die Frage, wen würden Sie wählen am nächsten Sonntag, bekommt die SPD ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949. Inzwischen wünschen sogar 27 Prozent der SPD-Anhänger lieber Kohl for Kanzler.

Ingrid Stahmer, SPD-Spitzenkandidatin in Berlin, ist sauer. Die gelernte Sozialarbeiterin und Trainerin für Gruppendynamik analysiert die kranke SPD-Psyche: „Das ist wie beim Familienstreit. Wenn Vater einfach nur auf den Tisch haut und schreit: ,Ruhe jetzt!‘, dann ist es kurz mucksmäuschenstill. Aber sobald Vater sich dann umdreht, geht der Streit weiter. Und dann fliegen ihm die Tassen um die Ohren.“

Vor solcherlei Wurfgeschossen flüchtet Scharping nach Leipzig, eine Stadt, „in der ich sehr gerne komme ... äh ... in die ich sehr gerne komme“. Dort räsonniert er bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, wie die „Einheit wirtschaftlich und sozial“ zu gestalten sei. Ihm fällt dazu ein: „In der Bunnesrepublik (sic!) wird zuviel in Beton und Boden und zuwenig in Köpfe und Können investiert.“ Sowieso werde „die Einheit frühestens in 15 Jahren vollendet sein“.

Einem Studenten der Uni Leipzig verrät er am späteren Abend: „Die SPD“ – er nimmt einen großen Schluck Mineralwasser – „ist auf dem Weg der Genesung.“ Er selber ist ja bereits genossen. „Der Vadder fühlt sich gut!“ diktiert er dem Studenten in den Block. So redet Papa Scharping, wenn nur noch die Uni-Zeitung was von ihm wissen will.

Rudi im Wechselbad der Gefühle – und die „Zeit“ macht auf Mitleid. „Das Geschäft ist erbarmungslos“, harmonisiert das Blatt, „am liebsten möchte man manchmal wegsehen.“ Um das Elend nicht länger ertragen zu müssen, empfiehlt das Helmut-Schmidt-Periodikum: „Sollte er nicht doch besser Fußball spielen?“

Zumindest um 11.45 Uhr kommt der SPD-Chef nicht dazu. Er philosophiert statt dessen über einen anderen Sport: „Bevor man anfängt, sich auf irgendeinen Gaul zu setzen, sollte man darauf achten, was reitet man denn da?“ – und macht Shakehands und Keep smiling mit dem brasilianischen Staatschef Cardoso. Abends wird Scharpings dickes Fell erneut auf Reißfestigkeit getestet. „Kohl ist mächtiger, Sie sind schmächtiger denn je“, schadenfreut sich Klaus Bresser im Kohl- Kanal ZDF. Der Oppositionsführer grinst geklemmt: „Ich habe nicht die Absicht, diese Personaldebatte fortzusetzen.“

An der Eleganz und Attraktion von Scharpings Auftreten müsse noch geschliffen werden, gibt ein Scharping-Berater der taz per Handy von unterwegs nach Brüssel zu Protokoll.

Zugleich meldet sich ein treuer Fanclub zu Wort, die Sachsen-SPD: „Der Solidere, der Angenehmere und der Liebere, das ist der Scharping.“

Offene Worte im Bonner „Bild“-Büro. Detlev Pahlke, 39, Restaurantfachmann in Baiersbronn, macht sich Sorgen: „Wollen Sie sich nicht mal den Bart abnehmen lassen?“ Scharping: „Nee, der Bart ist schon so lange dran.“ Einmal dran – nie mehr weg. Bevor er Bonn am Mittag verläßt, westerwäldert der hölzerne Sozi in jedes Mikrophon: „Ich bleibe Kanzlerkandidat.“ Alles, was Scharping in diesem Augenblick will, ist ein funkstilles Wochenende ohne FAZ, Feinde und falsche Freunde.

Sein Lieblingsvogel ist die Friedenstaube.

Sogar Kanzler Kohl zeigt Erbarmen. Er verpaßt der CDU einen Maulkorb – niemand dürfe in den kommenden Tagen auf Rudolf Sch. und der sich verflüchtigenden SPD herumhacken. Die Demokratie brauche eine scharpe Opposition.

Scharping fährt nach Esslingen – zum 125. Geburtstag der ortsansässigen SPD. Mit 180 Sachen. Die schwäbischen Genossen läßt er dann trotzdem warten. Beim herrschaftsfreien Diskurs mit einem Philosophen aus Starnberg, dem er noch einen Gefallen schuldet, vergißt er Zeit und Raum.

Zu spät betritt er die Stadthalle Esslingen, die GenossInnen speisen schon „Maultaschen abgeschmelzt“. Scharping überhört das Schmatzen, wie er überhaupt kaum zu wissen scheint, wo er sich gerade befindet. Seine Festrede zum Esslinger Jubiläum taugt für alle Jubiläen der Partei. Noch nie hat die anwesende dpa-Redakteurin so lange gebraucht, um eine Meldung zu schnitzen.

„Hallo, ich bin Rudolf. Und wer bist du?“ grient Vadder Scharping beim Natur-Kindergipfel in Berlin. Tapetenblumen sprießen auf seiner Krawatte, er trägt das gleiche kleinkarierte Jackett wie am Mittwoch in Leipzig. Ungesund gekrümmt, die Hände pastoral gefaltet, sitzt er da und gibt den Kids seltsame Tips: Sie sollten kämpfen für die „gesellschaftliche Bloßstellung von Mißständen“. Sie buhen ihn aus. Der Papa schreit verzweifelt: „Was erwartet ihr denn von einem Politiker? Daß er euch nach dem Mund redet oder daß er sagt, was er denkt?“ Die SPD könne sich keinen leisten, der „immer so aussieht, als würde er gleich in Tränen ausbrechen“, findet der Korrespondent der englischen Times.

Scharpings Tränen trocknen an diesem Wochenende CDU und Springer. Die CDU gründet eine Initiative „Rettet Scharping jetzt“ – und die Welt hat recherchiert, warum sie das tut: „Das ungekünstelte Mitleid mit Scharping entspringt bei Kohl auch den eigenen, sehr schmerzlichen Erfahrungen auf seinem langen Weg ins Kanzleramt.“

Das einzige Geheimnis über Scharping lüftet Bild: Er stakse so steif, da er vor Jahren mit dem Rad gestürzt sei – und sich die Hüftpfanne gequetscht habe.

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