■ Querspalte: Chip statt Hölzchen
Chip, chip, hurra! Der Computer marschiert. Längst kann er Gedichte schreiben, Musik komponieren und den Gespensterzug der fahrerlosen U-Bahn steuern. Jetzt hat die binäre Logik der elektronischen Denkzeuge ein weiteres Reservat menschlicher Unzulänglichkeit erfaßt und bereits voll digitalisiert: das Auslosen!
Wegen des riesigen Andrangs im Prozeß gegen die berüchtigte Aum-Sekte hat die japanische Justiz am Dienstag die Sitzplätze im Gerichtssaal mit einem neuen Computerverfahren verlost. Dazu ist ein eigener Rechner gekauft worden, der die Zahl der Sitzplätze und die der Zuschauer ins mathematisch hochkorrekte Verhältnis setzt und dann nach dem Zufallsprinzip die Eintrittskarten vergibt.
Vorbei die elenden Zeiten, als Justizbeamte teuflisch grinsend ihre Streichhölzer zückten, abbrachen und die Prozeßteilnehmer sich der entwürdigenden Prozedur des Streichholzziehens unterwerfen mußten. Vorbei die Zeit des Münzenwerfens, in der ein menschlich fehlbarer Wurf über Kopf oder Zahl, Glück und Unglück entschied. Das geht jetzt sauber, vollelektronisch, mit der majestätischen Gerechtigkeit einer Maschine. Und schneller. Bevor der Gerichtsdiener seine womöglich schon benutzte und daher leicht verdreckte Zündholzschachtel aus der verbeulten Hosentasche kramt, hat Mister Computer doch schon achtmal gepiept. Ganze fünfzehn Minuten habe die elektronische Auslosung gedauert. Sagt der Japaner.
Damit hat das letzte Stündlein aller Glücksfeen geschlagen, deren „glückliche Hand“ doch meist – seien wir ehrlich – eine verdammt unglückliche war. Oder haben Sie schon mal gewonnen? Auch in den Fußball-Stadien wurde bei der Seitenwahl bislang noch immer steinzeitlich die Münze geworfen, anstatt am Spielfeldrand die Festplatte des Mac anzuwerfen, der mit einem einzigen Knopfdruck alle Seitenwahlen bis zum Jahre 2020 im vorraus ausspucken könnte. Wir sehen: Der Fortschritt dräut. Und er ist gnadenlos. Manfred Kriener
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