: Vatertag der Verzweifelten
Eine halbe Million schwarze Männer kamen zum Marsch auf Washington – zur größten Schwarzen-Demonstration in der Geschichte der USA ■ Aus Washington Andrea Böhm
Die beiden weißen Jogger schleppen ihre Füße über den Kiesweg – die Augen starr auf den Boden gerichtet. Vermutlich ist es ihre tägliche Strecke – einmal vom Kapitol zum Lincoln Monument und zurück. Das ist an normalen Tagen überwiegend weißes Territorium, auf dem Touristen mit Baseballkappen und Fotoapparaten an Kongreßmitarbeitern mit Laptop-Taschen und Krawatten vorbeilaufen.
An diesem Montag haben rund 500.000 schwarze Männer das Gelände besetzt. Trotz drangvoller Enge in der Parkanlage wird den Joggern höflich eine Bahn bereitet. Zwei Schwarze räumen ein Transparent aus dem Weg, auf dem in großen Buchstaben „Black Men In Unity“ – „Schwarze Männer vereint“ – zu lesen ist. Geoffrey Mount-Varner, ein junger Mediziner, beobachtet die Szene mit einer Mischung aus Genugtuung und Ungläubigkeit. „Wo immer ich hinkomme, ob Universität oder Job, bin ich immer in der absoluten Minderheit. Heute ist es endlich einmal andersrum.“
Mount-Verner hat an der Harvard-Universität studiert und einen Posten an der renommierten Johns-Hopkins-Universität bekommen. Seine Freunde und Nachbarn, mit denen er sich zum Gruppenfoto aufstellt, haben ebenfalls Universitätsabschlüsse und gute Stellen. Sie alle leben in Mitchelville, in der Nähe von Washington, einer der ganz wenigen US-amerikanischen Suburbs, wo das Durchschnittseinkommen der Schwarzen über dem der Weißen liegt.
Unter rein materiellen Gesichtspunkten ist Geoffrey Mount- Verner dem „American Dream“ ziemlich nahe gekommen. Was diesen Traum zerstört, ist diese täglich wiederkehrende Wut, die er oft explodieren lassen möchte – wenn er nur wüßte, wo. Die Wut nährt der Taxifahrer, der ihn stehen läßt und den nächsten weißen Fahrgast mitnimmt; der Kaufhausdetektiv, der sich wie auf einen Pawlowschen Reflex hin im Laden an seine Fersen heftet und die weißen Kunden ignoriert; der Polizist, der in einem jungen Schwarzen mit guter Kleidung und Armani-Brille automatisch einen Drogendealer vermutet. Die Wut nähren eben jene Kollegen, die all das mit eigenen Augen sehen – und es als „Zufall“ abtun. „Manche“, sagt Mount-Verner, „begreifen, daß es Rassismus ist. Aber erst, wenn ich es ihnen hundertmal erklärt habe.“ Und er ist es leid, es zum 101. Mal zu erklären.
Vor mehreren Monaten hatte Geoffrey Mount-Verner zum ersten Mal von der Idee eines Marsches schwarzer Männer auf Washington gehört und sofort beschlossen, daran teilzunehmen. Ein Anhänger der Nation of Islam und ihres Führers Louis Farrakhan, der zu diesem Marsch aufgerufen hat, ist er nicht. Aber es verschafft ihm eine diebische Freude, daß sich Louis Farrakhan im Vorfeld des Million Men March wieder einmal zum Schreckgespenst der US-amerikanischen Medien entwickelt hat. „Weiße lernen von Geburt an, Angst vor Schwarzen Männern zu haben. Und Farrakhan jagt ihnen eine Heidenangst ein.“
Was man dem Nation-of-Islam- Führer vorwirft – vor allem seine Ausfälle gegen Juden als „Blutsauger der Schwarzen“ – hält der Mediziner für „völlig überzogene Pressedarstellungen“. Farrakhan, so glaubt er, ist ein potentieller Führer aller Schwarzen für diese neue Ära. Die spricht auch aus dem Gebet, das sich Mount-Verner für diesen Tag vorgenommen hat: „Gott, solange mein ärmster Bruder nicht auf meiner Stufe steht, habe ich gefehlt.“ Hinter diesem Satz, der aus der Feder eines Befreiungstheologen stammen könnte, steckt der unerschütterliche Glaube, daß Schwarze allein schaffen können, was staatliche Programme in den letzten drei Jahrzehnten nicht geschafft haben: die Ghettos der Großstädte durch einen solidarischen Kraftakt und eine moralische Erneuerung wieder zu wirtschaftlich und sozial stabilen Lebensräumen zu machen. Zumindest an diesem Tag wird diese ökonomisch illusionäre Vision gelebt: Einander wildfremde Männer, vom Obdachlosen bis zum etablierten Anwalt, begrüßen sich wie alte Schulfreunde.
Großväter, die an diesem Ort 1963 Martin Luther Kings Traum von einer integrierten Gesellschaft gehört hatten, reihen sich mit ihren Söhnen und Enkeln zum Gruppenfoto auf. Kein Schimpfwort ist zu hören, keine Drohgebärde zu sehen, kein Blickkontakt wird als „dissing“ – als Ausdruck der Verachtung – ausgelegt. Man wähnt sich auf einer Mischung aus christlicher Revival-Messe und Vatertag – ohne Alkohol. Mehrfach an diesem Tag bitten eine halbe Million schwarze Männer im Chor um Vergebung ihrer Sünden und schwören, ihre Kinder zu lieben, ihre Frauen zu achten und vorbildliche Bürger in ihren Nachbarschaften zu werden.
„Nüchterne, militante und verantwortungsbewußte schwarze Männer“ hatte Louis Farrakhan angekündigt. Verzweifelt über die rassistischen Stereotypen der weißen Gesellschaft, verzweifelt über den sozialen Notstand in den Großstadtghettos, ist heute jeder hier euphorisch, daß Hunderttausende der angeblich gefährlichsten Bevölkerungsgruppe der USA friedlich, clean und fromm die Hauptstadt besetzt haben. „Männer, räumt euren Müll weg, werft nichts auf den Rasen“, ruft zwischen den Rednern immer wieder ein Sprecher der Nation of Islam. „Wir wollen diese Stadt so zurücklassen, als wären wir nie physisch, sondern nur spirituell hier gewesen.“ Was immer das heißen mag.
Doch bevor die Massen verschwunden sind, bittet die Nation of Islam zur Kasse. Ganz im Stile eines Tele-Evangelisten wärmt Leonard Muhammad, Farrakhans Stabschef, die Menge immer wieder mit der Ankündigung vom Eintreffen des Starredners auf, preist ihre Gottesfürchtigkeit im besonderen und die Großartigkeit schwarzer Männer im allgemeinen. Dann bittet er jeden Marschteilnehmer, einen – oder mehrere – Dollar zur Begleichung der Unkosten der Nation of Islam aus der Tasche zu ziehen und mit dem Geldschein in der Luft zu wedeln. „Zeigt der ganzen Welt, daß wir finanziell unabhängig sind.“ Hunderttausende greifen in die Börse.
Mitglieder der Nation of Islam reichen selbstgebastelte Kartons über die Köpfe, in denen sie den Dollarregen aufsammeln. Als sich ein paar Geldkisten immer weiter von der Demonstration wegbewegen, ergeht eine höfliche Ermahnung über Lautsprecher: „Brüder, wir schätzen eure Hilfe beim Einsammeln. Aber bringt das Geld zur Bühne zurück.“ Ein paar Hunderttausend, wenn nicht eine Million Dollar dürften durch diesen Marsch in die Kassen der Nation of Islam geflossen sein. Die Versammelten haben acht Stunden und länger gewartet, bis der Hauptredner endlich auf die Bühne tritt. Es ist zweifellos der größte Moment im Leben des Louis Farrakhan. Er hat die größte Demonstration in der Geschichte der US-amerikanischen Schwarzen, wenn nicht in der US-Geschichte überhaupt, zusammengebracht. Sein Veranstaltungsprogramm ist durch die Beiträge von Stevie Wonder und mehreren schwarzen Kongreßabgeordneten und Bürgermeistern zu einer ansehnlichen Rednerliste aufgewertet worden. Die Beiträge der Dichterin Maya Angelou und der Bürgerrechtlerin Rosa Parks haben den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit abgefedert.
Seinen Dauerkonkurrenten Jesse Jackson, der den Million Men March ursprünglich abgelehnt hatte, hat Farrakhan ins Vorprogramm verwiesen. Jackson allerdings läßt sich nicht unterkriegen – er hält die einzige politische Rede, in der er die Kahlschlag- und Law- and-order-Politik der Republikaner anprangert, von denen einige auf den Balkonen des Kapitols lauschen. Auch einen Seitenhieb gegen Farrakhan hat Jackson parat. „Nicht Farrakhan hat diesen Marsch organisiert“, ruft er in seinem altbekannten Predigerstil. „Newt Gingrich und Clarence Thomas haben die Massen zu diesem Marsch getrieben.“ Dann tritt er unter Beifall ab – und verläßt die Bühne.
Louis Farrakhan kann seit dem 16. Oktober vermutlich den Rekord beanspruchen, als erster US- Amerikaner vor einer halben Million Demonstranten eine zweieinhalbstündige Rede gehalten zu haben. Jeder Appell an mehr Eigenverantwortung und moralische Erneuerung des schwarzen Mannes wird heftig beklatscht. Der Beifall ist immer noch weithin vernehmbar, als er sich zum Propheten Gottes erklärt, der durch ihn das Werk der schwarzen Befreiung, und damit der Befreiung Amerikas, in die Wege leitet. Und wenn Gott dieses Unternehmen durch ihn ausführen lassen wolle, ruft Farrakhan mit samtener Stimme, „dann kann ich doch kein Antisemit sein“.
Just das hat ihm Bill Clinton wenige Stunden zuvor auf einer Veranstaltung in Texas vorgeworfen, wo er eine ganze Rede dem Zustand der Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen widmete. „Rassismus“, sagte Clinton, „ist die Bürde der Schwarzen und das Problem der Weißen.“ Es bedurfte des grotesken Spektakels um den Simpson-Prozeß und der Kontroverse um Farrakhans Marsch, um den Präsidenten der USA zu dieser Aussage zu bewegen.
Bei aller Kritik an Farrakhan war dies eine stillschweigende Aufwertung seiner Position – und Farrakhan weiß das auch. Am Abend dieses 16. Oktober badet Farrakhan im Scheinwerferlicht der „Larry King Show“.
Die Marschierer sind unterdessen wieder auf dem Weg nach Hause – manche fahren die nächsten Tage und Nächte per Bus nach Kalifornien, andere drängen sich in die U-Bahn nach Anacostia, wieder andere halten suchend nach Taxis Ausschau, die sie zum Flughafen oder ins Hotel bringen könnten. Doch trotz Tausender potentieller Kunden sind kaum welche zu sehen. „Von meinen Kollegen“, sagt ein junger Taxifahrer, afrikanischer Flüchtling wie viele aus der Branche, „werden sie hier heute nicht viele sehen. Die haben Angst. Man weiß ja nie, wen man da einsteigen läßt.“
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