: Papier im Speicher
■ Computerzeitschriften boomen an allen Kiosken. Gleich zwei neue orientieren sich am US-Kultmagazin "Wired"
Erinnert sich noch jemand an das „papierlose Büro“? Dieses Schlagwort kursierte vor einigen Jahren und sollte uns auf die goldenen Zeiten vorbereiten, in denen der gesamte lästige Papierkram in Computerspeichern verschwunden sein würde. Nachrichten, Briefe, Formulare – all das sollte nicht mehr auf Papier aus toten Bäumen kursieren, sondern digital und ökologisch korrekt nur noch von Computer zu Computer.
Was aus dieser Vision geworden ist, weiß jeder, der schon einmal in einem solchen „papierlosen“ Büro gearbeitet hat. Die Schreibtische und Recycling-Container ächzen unter Stapeln von Computerausdrucken, die Software-Manuals und Gebrauchsanweisungen füllen die Regale, und Nachrichten, die man per e-Mail bekommen hat, werden mit der Schneckenpost sicherheitshalber noch einmal hinterhergesandt. Zum Papiersparen haben Computer bislang nichts beigetragen.
Wer's nicht glaubt, muß nur einen Blick in den nächsten Kiosk werfen. Eine unüberschaubare Flut von Computermagazinen verstopft die Auslagen der Zeitschriftenhändler. Die Gesamtauflage der Computerzeitschriften stieg im zweiten Quartal dieses Jahres um über 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. So einen Zuwachs hat kein anderes Segment der sogenannten Special-Interest-Titel. Einzelne Titel, wie zum Beispiel PC Games, konnten ihre Auflage sogar in einem Jahr mehr als verdoppeln.
Neben den „Klassikern“ wie Chip, PC Welt oder c't gibt es inzwischen für die exotischsten Computerfabrikate und Softwareprodukte eigene Zeitschriften. Zuletzt hatte Windows 95 eine Reihe von Verlagen zu Neugründungen bewegt. Jetzt steht wieder eine Welle von Neueinführungen bevor, von Blättern, die sich mit dem Internet beschäftigen. Und da gibt es einiges zu schreiben. Das chaotische und unübersichtliche Computernetzwerk verlangt nach Wegweisern.
Zwei Blätter, die nicht nur die Thematik gemeinsam haben, sondern auch den Versuch, einen in Computerzeitschriften neuen Ton anzuschlagen, sind in diesen Tagen auf den Mark gekommen: Hyper! und Pl6net. Hyper! (6,80 Mark) aus dem Daten- und Medienverlag in Poing (sic!) will laut Untertitel „Leben in den Computer“ bringen. Das Magazin richtet sich an Computer-User, die keine Lust haben, sich lange mit der Technik herumzuärgern.
Während andere Computerzeitschriften gerne seitenlange Software-Berichte und rätselhaften Techno-Babbel über „Compiler“, „Router“ und „virtuelle Speicher“ veröffentlichen, will Hyper! „nützliche Tips für den Alltag, nicht esoterische Technik“ liefern, was in der ersten Ausgabe ganz gut gelingt. In recht verständlicher Sprache beurteilt die Redaktion neue CD-Roms, Internet-Angebote und in einem informativen Artikel das gefürchtete Microsoft- Network von Bill Gates. Etwas bieder wirkt das Heft allerdings, wenn man es mit der amerikanischen Zeitschrift Wired vergleicht, die hier ganz offensichtlich Pate gestanden hat und von der man sich unter anderem Nicholas Negroponte als Kolumnisten ausgeliehen hat.
Denn Wired aus San Francisco ist weit mehr als die Pflichtlektüre für alle, die sich für Computerkultur interessieren. Die Herausgeber vergleichen ihr seit drei Jahren erscheinendes Heft gerne mit dem frühen Rolling Stone, weil sie meinen, mit ihrer Blattidee genau wie der den Zeitgeist getroffen zu haben. Und diesmal sind solche Werbesprüche nicht übertrieben. So nimmt es nicht wunder, daß sich auch das neue Pl6net (7,80 Mark) aus dem Ziff-Verlag die amerikanische Kultzeitschrift zum Vorbild genommen zu haben scheint.
Das Heft richtet sich explizit an die deutschen „Netheads“ und ist graphisch toll aufgemacht. In der ersten Ausgabe findet sich allerdings wenig mehr als eine gewissenhaft zusammengestellte Sammlung von WorldWideWeb-Adressen. Das ist für Internet-SurferInnen interessantes Material.
An die meist hohe journalistische Qualität von Wired reicht das Blatt aber noch nicht heran. Nur ein Porträt der Gründer des legendären Internet-Adressatenverzeichnisses Yahoo! und eine Reportage über Cafés mit Internet- Anschluß erinnern an das große Vorbild und seine Grundidee: die Entwicklung von Computerkultur als sozialen Prozeß zu beschreiben.
Trotzdem: Für Erstausgaben sind beide Hefte gelungen, besonders verglichen mit dem Zeitschriftenschrott, mit dem zur Zeit viele Verlage eine schnelle Mark zu machen versuchen. Bloß schönere Titel hätte man sich schon einfallen lassen können! Tilman Baumgärtel
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