Press-Schlag: Meister des Müllerns
■ Am 50sten: Gegen das Vergessen – Gerd Müller ist der Allerbombigste!
Gekramt im diffusen Wust der Erinnerung findet sich zum Beispiel beim Stichwort „5:1 gegen die Schweiz im November 1972“ das immergleiche Bild: Günter Netzer, wie er im Düsseldorfer Rheinstadion das Tor des Jahres zelebriert. Unwesentlich dagegen scheint, wer damals ganz allein die anderen vier Tore geschossen hat.
Es war der, der stets die anderen Tore geschossen hat. Gerd Müller ist, obwohl er heute erst 50 wird, längst aus dem kollektiven Fußballbewußtsein vertrieben. Es ist erschütternd: Nahezu keine Anthologie über die Großen des Weltfußballs hält es für nötig, Müller aufzuführen, auch nicht die deutschen Märchensammlungen. Keine Weltauswahl hält sich mit dem Mann auf, der die meisten WM-Tore geschossen hat (14) und dessen Bundesliga- (365 in 427 Partien) und Länderspiel-Torquotient (68 in 62 Spielen) auf diesem Niveau keiner überbieten kann.
Daß der gelernte Weber aus dem schwäbischen (politisch: bayerischen) Nördlingen ein Fußballer war, nur Fußballer und sonst nichts, und nach dem Ende seines überirdischen Daseins in keinster Weise gesellschaftsfähig, ist eine andere Sache und hat wohl einen Kausalzusammenhang mit seiner Nicht-Existenz in der medialen Gesellschaft, nicht aber mit seiner Geringschätzung in der Historie des Spiels.
Wie kam es, daß Sie und Müller sich gleichzeitig einen Schnauzbart wachsen ließen?
M. Bleicher, Rottenacker
Unmittelbar nach dem Türkenspiel stand für mich fest, daß ich mir einen Schnauzbart wachsen lassen würde. Als wir im Flugzeug saßen, sagte ich zu Gerd Müller: Ich lasse mir jetzt einen Schnauzbart wachsen. Darauf antwortete Gerd Müller: Ich lasse mir auch einen Schnauzbart wachsen.
Franz Beckenbauer, Libero
Ror Wolf
Die mag vielmehr darin begründet liegen, daß er ein Toremacher war und sonst nichts. Aber, hallt es solch schnöden Worten mit berechtigter und geradezu blickensdörferesker Emphase entgegen: Worum dreht sich denn dieses Spiel und also die Welt? Wenn nicht um das Toreschießen? „Ohne ihn“, sagt einer, der es wissen muß, „wären wir vielleicht heute noch in dem alten Holzhäusl.“ „Wir“ meint in diesem Fall Bayern München, und der es gesagt hat ist der Präsident jenes Klubs, der bekanntlich längst in einem beeindruckenden Anwesen residiert.
Franz Beckenbauer nämlich hat im großen und ganzen keine Tore geschossen. Da aber, wie programmatisch eine Biographie Müllers benannt wurde, „Tore entscheiden“, war es der Gerd, der alles möglich machte: den Aufstieg der Bayern, die Meisterschaften, die Europapokale, WM- und EM-Titel für den DFB.
Das Geniale an Müller war, daß er zu seiner allerbesten Zeit (1969-73) das unerträglich komplexe Geschäft des Toreschießens zur Selbstverständlichkeit gemacht hatte. Man nannte das allgemein nur noch „Müllern“.
Das aber wurde gegen ihn verwandt: Daß Spiele und Titel gewonnen wurden, war aufregend, daß die nötigen Tore von Müller kamen, war so selbstverständlich, wie heutzutage Bundeskanzler ein Synonym für Kohl ist.
Was die Abhängigkeiten betrifft: Auch Müller war in gewisser Weise von Beckenbauer abhängig. Als der 1977 ins amerikanische Exil entschwand, war bald darauf auch Müller erledigt. Der hatte auf dem Spielfeld funktioniert, solange der andere den Rest erledigte. Mit der Kapitänsbinde Bayerns war er hilflos. Ohne Chance gegen die Geschäfte des „linken Vogels“ (Müller) Breitner flüchtete er im Februar 1979 nach Fort Lauderdale. Kickte noch etwas, saß dann ohne Ziel und Aufgabe in seinem Steakhouse, später zu Hause in München rum und verpraßte sein Geld nicht, verlor es einfach. Als nichts mehr zu gehen schien, holten ihn die alten Kollegen Hoeneß und Beckenbauer zurück zum Klub, der ihm alles verdankt. Heute läßt man ihn dort mit unterschiedlichsten Arbeiten seinen Tag herumbringen. Gerade hat sein Chef Beckenbauer in üblicher Großzügigkeit wissen lassen, er sehe „auf der ganzen Welt keinen, der in seine Fußstapfen treten könnte“. Dieses Lob (siehe Ror Wolf) wird den Müller am meisten freuen. Peter Unfried
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