: Teenagervisionen im Internet
Auf einem „Juniorengipfel zur Informationsgesellschaft“ wollten japanische Industrielle von vierzig Jugendlichen aus aller Welt erfahren, wie sie sich die digitale Zukunft vorstellen ■ Aus Tokio Georg Blume
Michelle Rosenthal muß die Rednerliste für die zehn Mitglieder der Arbeitsgruppe „Krieg und Frieden“ zu Papier bringen. Dafür immerhin borgt sich die 15jährige Schülerin von der Bury Grammar School in Großbritannien einen Füller, ein Schreibgerät, das auf Treffen wie diesem nur noch ausnahmsweise benutzt wird.
Anfangen soll der 17jährige Stefan Plantikow aus Magdeburg. Zwischendurch wird Christina Catana, 17, aus Hannover über die Chaostage in ihrer Stadt berichten. Am Ende soll der 18jährige Makoto Tanaka von der Taisei High School in Japan die „global message“ der Gruppe auf den Punkt bringen: „Das Internet bietet eine Lösung, mit Menschen überall auf der Welt Freundschaften statt Feindschaften zu begründen.“
„Steht bitte auf, wenn ihr redet“, mahnt Michelle. „Das ist unfair“, schimpft da der 12jährige Damien Sereni aus Paris, der in diesem Bund der Kleinste ist. „Wir sind alle total nervös“, ächzt Christina, in ihrer Hand das ausgedruckte Computermanuskript. Da winkt auch schon der Moderator. Vor zwei gigantischen Bildschirmen, auf denen ihre Lebensläufe eingeblendet werden, nehmen die Jugendlichen aus Kanada, Singapur, Frankreich, Großbritannien, Südafrika, Japan, Australien, Amerika und Deutschland im Scheinwerferlicht Platz.
Inzwischen hat sich in der futuristischen Fortbildungshalle des führenden Tokioter Softwarehauses CSK die Elite der japanischen Informationsgesellschaft versammelt. An einem Tag wollen Nippons Zukunftsmacher hier erfahren, was 40 Jugendlichen aus aller Welt im Alter von 12 bis 18 Jahren zu den vier Themen Umwelt, Erziehung, Kommunikation und Krieg & Frieden einfällt. „Die Kinder sind sich ihrer Zukunft bewußter als wir“, formuliert Sega-Präsident Isao Okawa in seiner Eröffnungsansprache das Motto des Gipfels.
Gerade erst sechs Monate ist die Idee zu diesem „Juniorengipfel für die globale Informationsgesellschaft“ alt. Sie stammt vom Sega- Chef Okawa, der im Februar an dem offiziellen „Gipfel für die globale Informationsgesellschaft“ der sieben reichsten Industrienationen (G 7) teilgenommen hatte. Das Erwachsenenpalaver in Brüssel aber war dem unkonventionellen Industriemogul nicht genug: „Wir brauchen die Vorstellungskraft der Jugend, die frei ist von konventionellen Werten und Konzepten, um die Informationsgesellschaft von morgen aufzubauen“, glaubt Okawa, der sein Vermögen mit Videospielen erwirtschaftet und damit Kinder zu seinen besten KundInnen zählt. Also war der Sega-Chef bereit, zwei Millionen Mark auf den Tisch zu legen und damit die Hälfte der Kosten dieses Treffens aus eigener Tasche zu bezahlen. Wie sich das Internet kommerziell nutzen läßt, wissen allerdings Sega und die übrigen japanischen und amerikanischen Firmensponsoren des Juniorengipfels bislang nicht.
Den erwachsenen Gästen ist ihre Ratlosigkeit anzusehen. In steifer Haltung harren sie der Ratschlägen der Kids. Hohe Ministerialbeamte sitzen neben den Topmanagern weltweit bekannter Firmen. Von den Computerriesen Fujitsu und Hitachi bis zum Videospielmagnaten Sega sind alle vertreten, die in Japan in Sachen digitaler Zukunft mitreden.
Auch Ex-Premier Tsutomu Hata, derzeit die große Hoffnung der japanischen Opposition, ist da. WissenschaftlerInnen aus aller Welt sind erschienen und die SchülerInnen der Gastgebergemeinde. Als Ehrengast ist Nicholas Negroponte gekommen, der Internet- Guru vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Und obwohl die Erwachsenen unter den ZuschauerInnen überwiegen, wird die Bühne der Jugend überlassen. Und die weiß sie zu nutzen.
Kaum haben die Kids das Mikrofon in der Hand und die Kamera im Blick, ist ihre Nervosität verschwunden. „Kriege beginnen, wo Menschen nicht mehr kommunizieren“, beginnt Stefan programmatisch. Sein steifer deutscher Akzent paßt gut zur großen Gelegenheit. Er verleiht dem jugendlichen Ton in der englischen Konferenzsprache eine unerwartete Schärfe. Tatsächlich liegt ja schon in Stefans erstem Satz ein ganzes Gesellschaftsprogramm: Wo die Kommunikationsgesellschaft beginnt, enden die Kriege, lautet der kaum versteckte Rückschluß. An der schnörkellosen Klarheit ihrer utopischen Botschaft zeigt sich nun, wie lange die zehn Jugendlichen zuvor an ihrem Vortrag gefeilt haben. In Tokio hatte die Gruppe nur einen Tag Zeit, letzte Abstimmungen zu treffen. Den Großteil ihrer transkontinentalen Zusammenarbeit erledigten die zehn Kids vorher an ihren heimatlichen Schreibtischen über das Internet. So waren ihnen nicht nur die thematischen Positionen aller Gruppenmitglieder vor der Ankunft in Japan vertraut. Über eine eigens auf dem Netz eingerichtete „Chat Corner“ hatte man sich im Voraus auch schon allerlei Privates mitgeteilt. Das Ergebnis: Die Gruppenchemie stimmt. Das wiederum festigt den gemeinsamen Glauben an die neue Technik.
Christinas Bericht über die Chaostage in Hannover soll deshalb die häßliche Alternative zur Kommunikationsgesellschaft verdeutlichen: Denn Punks und Polizei, die sich „aus Spaß“ bekriegen, zählen nicht zu den digital people. Sie haben keinen Zugang zum Internet, also kommunizieren sie nicht. Kurz: Sie sind „digital obdachlos“. Hier – und nicht etwa in Umweltzerstörung oder Atomgefahr – erkennen die Kids den größten Risikofaktor für die Zukunft. Ihre Frage lautet also: Wie können die Obdachlosen der Kommunikationsgesellschaft, von Punks und Polizisten bis zu den BewohnerInnen von Entwicklungsländern, das rettende Internet eines Tages erreichen, und wer bezahlt dann dafür? „Das haben wir nun wochenlang diskutiert und keine Antwort gefunden“, meint die 18jährige Oldenburger Schülerin Marina Moye, Teilnehmerin der Gruppe „Erziehung“.
Marinas Einwand gibt der Darstellung ihrer Gruppe eine selbstkritische Note. Bis dahin haben sich die jugendlichen On-line-AktivistInnen in verheißungsvollen Zukunftsbeschwörungen überboten: „Die Schönheit des Internet liegt in seinem Beziehungsfaktor.“ Michelle verzaubert ihr Publikum, welches wohl ahnt, daß keine Internet-Message so verführerisch wirken wird wie das Lächeln dieser jungen Engländerin. „Die Kommunikation am Internet führt zum Verlust der ethnozentristischen Perspektive“, verspricht die 16jährige Juno Nakamura aus der Hafenstadt Yokohama bei Tokio. Sie war überrascht, daß ihre Vorschläge am Internet von den gleichaltrigen TeilnehmerInnen in Übersee genauso aufgenommen wurden wie alle anderen. Erst in Tokio stellte sich heraus, daß Juno erst 1,40 Meter groß ist und noch nicht mal in der Pubertät steckt. „Auf dem Internet weiß keiner, daß du ein Hund bist“, beschreibt MIT-Professor Negroponte den Internet-Egalitarismus, der gerade Kinder fasziniert, die sonst nicht ernstgenommen werden.
Vom Internet als Lernmittel versprechen sich die jugendlichen GipfelstürmerInnen außerdem die Lösung aller Schulprobleme. „Cyberspace-Erziehung“ lautet ihr pädagogisches Password. Der 15jährige Italiener Marco D'Alimonte erklärt das so: „Was wir unter der Erziehung im Cyberspace verstehen, sind grenzenlose Auswahlmöglichkeiten für das individuelle Engagement eines jeden Schülers. Nur am Computer kann der einzelne die Kontrolle über den eigenen Lernprozeß zurückgewinnen.“ Das erinnert entfernt an die Thesen der deutschen Jugendzentrumsbewegung, als sich Jugendliche und SozialarbeiterInnen von Gruppenarbeit und anderen selbstbestimmten Lernmethoden die Befreiung vom Schulstreß erhofften. Vom bedürfnisorientierten Lernansatz war damals viel die Rede; hier in Tokio heißt das nun: „Das Internet bietet jedem Schüler das Thema an, das ihn interessiert“, so der 17jährige Aik Ping Ng vom Raffles Junior College in Singapur.
Die Kids bieten ihre Ansichten so überzeugend dar, daß es dem erwachsenen Publikum schier die Sprache verschlägt. Ex-Premier Hata schreibt eifrig mit. Als Politiker liebt er die eingängige Sprache der Jugendlichen. Die Moderatoren bitten um Fragen – und müssen warten. Schließlich will Jane Boston, die Leiterin des interkulturellen Austauschprogramms an der Universität Stanford in San Francisco, das Urteil der Kids über die LehrerInnen von heute hören: „Sie sollten selbst mehr lernen und in der Informationstechnologie keine Gefahr, sondern einen neuen Wert erkennen“, lautet die Antwort von der Bühne.
In einer Frage jedoch herrscht auch unter den Jugendlichen keine Einigkeit. Es geht um die Möglichkeiten und Grenzen der Computerkommunikation selbst. Die Gruppe „Kommunikation“ vertritt zwei gegensätzliche Thesen: Die eine handelt von der unendlichen Freiheit auf dem Internet, die andere von der nötigen Kontrolle im Cyberspace. „Wir brauchen heute ein völlig offenes System, weil der Kosument aus dem freien Wettbewerb immer als Sieger hervorgeht“, meint der 18jährige Ian Wojtowicz aus Kanada. Ian weiß, von welchem Geschäft er redet: Der 18jährige ist bereits Herausgeber einer eigenen Internet-Zeitschrift.
Nicolas Leroux, 16, der das elitäre Chartreux-Gymnasium in Frankreich besucht, kontert im Geist des republikanischen Gesellschaftsvertrags: „Es gibt keine Freiheit ohne Gesetze. Deshalb muß es eine Art UNO für die Informationsgesellschaft geben, welche die anerkannten ethischen Werte auf dem Internet schützt.“ Für die Kids handelt es sich dabei offenbar um die zentrale politische Debatte der Zukunft: Welche Macht kontrolliert das Internet? Oder ist völlige Anarchie auf dem weltweiten Datenträgernetz die einzig gangbare Lösung? Wie aber dann zum Beispiel denkbare digitale Mordaufrufe verhindern?
Den meisten Kids des Gipfels geht es offenbar wie dem Franzosen Nicolas: Sie suchen nach einer Lösung, wie sich das Böse aus dem Internet verbannen läßt. Eine ganz andere Antwort gibt Nicholas Negroponte: „Das Internet ist unkontrollierbar. Jeder kann dort veröffentlichen, was er will, und keine Regierung kann dem Einhalt gebieten.“ So begeistert sich der Multimediaprofessor aus Massachusetts auch von den Ideen der Kids zeigt, widerspricht er doch der Debatte um Begrenzungen: „Es schockiert mich, wenn Kinder die gerade erst gewonnene Freiheit auf dem Internet schon wieder einschränken wollen.“
Mit diesen Worten endet der Juniorengipfel in Tokio. Auf der anschließenden Stehparty haben ManagerInnen und PolitikerInnen noch immer viele Fragen an die Kids. Die JuniorInnen wissen leider viel zu gut, wie gut sie waren: „Gebt uns die Chance, in Frieden aufzuwachsen, indem ihr jetzt lernt, was Kommunikation bedeutet“, hatte Makoto aus Fukuoka die Erwachsenen aufgefordert.
Zum Dank für die schönen Worte läßt der Sega-Präsident zum Nachtisch Schokoladensahnetorte mit Erdbeeren servieren.
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