: „Warum schreien die ständig so laut?“
Als langgediente Genossin wünscht sich Erica Futran eine solidarische SPD, kann Prominentengerangel und Machtkämpfe nicht leiden – und freut sich doch über einen gelungenen Coup ■ Aus Mannheim Heide Platen
Erica Futran klatscht auch dann sehr verhalten, wenn sie begeistert ist. Zum Beispiel, als Peter Glotz mahnt: „Wenn wir jahrelang – gegen die Union – sagen, wir sind ein Einwanderungsland, dann kann das jetzt nicht anders sein. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz!“ Gerhard Schröder bringt sie immerhin dazu, mehrmals zustimmend zu nicken, als er sagt, die SPD müsse in den Industriebetrieben präsent bleiben. Das ist schon was bei dieser Frau, die sich gern als die geborene Preußin gibt: „Ich kann sehr reserviert sein.“
Auf dem SPD-Parteitag in Mannheim ist Erica Futran Ehrengast. Eigentlich wirkt sie zu jung für den SeniorInnentisch in der hinteren Mitte des Saales im Mannheimer Rosengarten. Die 69jährige Rentnerin ist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Verfolgter Sozialdemokraten in Hessen-Süd und hat sehr präzise Vorstellungen von sozialdemokratischer Identität: „Immer auf der Seite der Unterdrückten!“ Und das will sie auch gelebt wissen, mit vollem Terminkalender, Korrespondenzen, Zeitungsartikeln und parteiinternen UnruhestifterInnen. Rentner-Streß? Das Wort mag sie gar nicht. Das ist etwas für Leute, die ihre Zeit in Kaffeehäusern vertun: „Ich arbeite politisch, und ich habe mir das selbst ausgesucht. Das ist meine Pflicht.“
Resignieren, lamentieren, gar an ihrer Partei verzweifeln, das ist ihre Sache nicht. Da ist ihr kein Sterbenswörtchen zu entlocken. „Die Medien wollen doch nur, daß die SPD sich weiterstreitet“, sagt sie streng. „Daß Leute ihre Parteibücher zurückgeben“, hatte sie vor der Abreise nach Mannheim in ihrer hellen, freundlichen Wohnung im Frankfurter Westend gesagt, „das kann ich überhaupt nicht verstehen.“
Dafür versteht sie sehr viel von Disziplin. Die brauchte sie schon während ihrer Ausbildung zur Schauspielerin in Berlin und als sie die Polly in der „Dreigroschenoper“ spielte. Manchmal schimmert durch, daß Rudolf Scharping nicht unbedingt ihr Lieblings- SPD-Vorsitzender ist. Aber sie zollt ihm Respekt, denn er ist es nun einmal. Und seine Parteitagsrede sei ihm auch rhetorisch gelungen. Höhen und Tiefen hatte sie, war ordentlich moduliert, mal laut, mal leise. „Ob der noch eine Sprechausbildung gemacht hat?“ fragt Erica Futran sich leise – wohl auch in Erinnerung an andere Reden. Und beißt sich auf die Lippen: „Das darf ich ja gar nicht fragen. Aber warum ist der nicht immer so?“ Und seine Selbstkritik findet sie sogar bewundernswert: „Da hat er den anderen eine Menge vorweggenommen.“
In der Pause ersteht Erica Futran an einem Stand eine Broschüre, in der Zeitzeugen aus dem Jahr 1945 berichten. In die vertieft sie sich, wenn die Redebeiträge gar zu nichtssagend sind. Und blickt manchmal gequält auf, wenn die jungen Leute vom Podium aus verbal auf ihre Altvorderen eindreschen. Nicht, daß die immer ganz unrecht hätten, aber warum schreien sie dabei eigentlich ständig so schrecklich laut? „Die müssen“, findet sie, und meint nicht nur die Rhetorik, „noch viel lernen.“ Pauschale Beschimpfungen, Niedermachen, das habe die Sozialdemokratie nicht verdient, schon gar nicht öffentlich und aus den eigenen Reihen. Sozialdemokratie ist für eine wie Futran kein Machtgerangel, sondern Lebensgeschichte, mit der sorgfältig umgegangen werden muß.
Nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch die Arbeit ihres 1970 gestorbenen Mannes, des Journalisten Alfred Futran, und ihres Schwiegervaters Alexander Futran verbindet die Familie mit der SPD. Der USPD-Stadtverordnete hatte sich dem Kapp-Putsch rechter Militärs und Politiker am 16. März 1920 mit einem Sozialistischen Verteidigungskomitee entgegengestellt und war fünf Tage später zusammen mit anderen Opfern standrechtlich erschossen worden. Seither war die jüdische Familie Futran Beschimpfungen und Angriffen ausgesetzt. Ihr späterer Mann Alfred mußte schon 1933 aus Deutschland fliehen und gelangte über Prag, Wien, Zürich und Paris nach Südafrika. Dort hat sie ihn auf einer Kulturveranstaltung kennengelernt, als sie aus dem „Zauberberg“ rezitierte: „Ich war sehr jung und aufgeregt. Alles gebildete, jüdische Leute, die natürlich was von Literatur verstanden.“
Fünf Monate später waren sie und Alfred Futran verheiratet. Das habe für Aufregung in der Johannesburger Emigranten-Szene gesorgt: „Ich war doch eine Deutsche.“ Die Bewunderung für ihren Mann ist geblieben. Was „der Futran“ geschrieben hat, hat sie sorgfältig aufbewahrt. Zeitungsausschnitte aus der südafrikanischen Zeitung Blätter der Emigration, ein Buchmanuskript: „Das sind Schätze.“ Von ihrem Mann übernahm Erica Futran die absolute Loyalität zur Nachkriegs-SPD, die für beide nach der Rückkehr aus dem Exil – zunächst in Berlin, dann in Frankfurt – politische Heimat wurde: „Futran hat gleich am zweiten Tag das Parteibüro aufgesucht.“ In alle Welt verstreute Menschen fanden wieder zusammen: „Das war ein Nest, eine große Familie. Und es waren so viele nicht zurückgekommen.“
In Berlin-Köpenick gibt es einen Alexander-Futran-Platz. Zur Feierstunde des 75. Gedenktages ist sie dorthin gereist und fand die Veranstaltung sehr würdig. Früher habe es, erinnert sie sich, auch ein Schiff auf der Spree gegeben, daß nach ihrem Schwiegervater benannt war. Sie findet es zwar ungerecht, daß im Nationalsozialismus verfolgte Sozialdemokraten noch heute so wenig Aufmerksamkeit bekommen, hält aber „die ganze Umbenennung“ von Straßen und Plätzen in den neuen Bundesländern, „egal ob die nun Kommunisten waren oder nicht“, für falsch: „Da wird mir ganz schlecht.“
Daß Sozialdemokratie nicht nur die Gegenwart von Prominentengerangel und Machtkalkül, sondern für viele Menschen noch immer Vergangenheit und Hoffnung auf eine bessere Zukunft bedeutet, glaubt Erica Futran ganz fest. Ihr unermüdlicher Einsatz in hessischen Gemeinden zeugt davon. Sie untertreibt nicht ohne Absicht, wenn sie sagt: „Wir stellen überall Gedenktafeln auf.“ Die Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten, eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg als Hilfsorganisation für von den Nazis verfolgte Sozialdemokraten, zurückgekehrte KZ- Häftlinge und Emigranten gegründet, ist „1979 modernisiert und den neuen politischen Gegebenheiten angepaßt worden“. Seither stehen im Programm ebenso der Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Neonazis wie die Weitergabe von Erinnerung: „Wir gehen in die Schulen, sind Zeitzeugen.“ – „Nie vergessen“, steht auf einer der ersten Tafeln, die die Futran mit aufstellte. Im Saal der SPD-Zentrale in Frankfurt wurde sie eingeweiht: „Da habe ich gedacht, jetzt könnte ich eigentlich sterben.“ Das sagt sie mit strahlendem Lächeln und wirkt nicht gerade so, als hätte sie ihren Auftrag bereits erledigt.
Von Kritik an ihrer Partei fühlt sie sich herausgefordert: „Die SPD hat es aber auch verdammt schwer!“ Die anderen Parteien müßten „keinen solchen Spagat schaffen: Wir dürfen die Arbeitnehmer nicht vernachlässigen und müssen aber trotzdem den Schritt zur Modernisierung machen. Das wird von keiner anderen Partei verlangt. Kohl braucht das nicht. Der kann bloß dasitzen und bekommt bald noch einen Hermelin umgehängt.“ Flügelkämpfe seien da mehr als überflüssig: „Ich weiß nicht, was rechts und links ist. Ich bin manchmal beides. Wir müssen Brücken bauen.“
Wenn schon, mäkelt sie lieber ein ganz kleines bißchen an der Organisation dieses Parteitags. Das Musik- und Unterhaltungsprogramm zur Eröffnung hätte „besser in eine Abendveranstaltung gepaßt“. Es war ihr deutlich zu lang: „Den Leuten brennt Wichtiges auf den Nägeln.“ Nur die Rede der südafrikanischen Botschafterin und die Gedenkminute für den israelischen Ministerpräsidenten Rabin fand sie wichtig genug, um Zeit von der inhaltlichen Diskussion abzustreichen: „Das hat mich berührt.“ In Johannesburg hat sie selbst erlebt, wie die Weißen die Schwarzen unterdrückt haben, nun hofft sie, daß die einstigen Herrscher sich „der Mehrheit fügen“, der schwarzen Mehrheit.
Sich diszipliniert Mehrheiten fügen, das wäre für sie auch in der eigenen Partei ein Segen. Aber nicht, ohne an die Minderheiten zu denken. „Die Ostdeutschen“, hat die Frankfurterin Futran gezählt, „haben bis jetzt erst einen einzigen Redner gehabt.“ Aber ein bißchen anstrengen müßten die sich, wie die Frauen auch, und, statt Reißverschlußverfahren zu fordern, lernen, sich durchzusetzen und ihre Zettel für die Redeliste rechtzeitig abzugeben.
Am besten gefällt Erica Futran am Abend des ersten Tages in Mannheim die Ausstellung im Foyer des Rosengarten. Kein Wunder, das ist auch ihre Welt: Mit über 50 Ständen präsentiert sich die Parteibasis als „Lebendiger Ortsverein“ von der Nordsee bis Bayern. Daß die Alten dabei oft die „Lebendigsten“ sind, bestätigen ihr die zahlreichen Stände der „Arbeitsgemeinschaft 60 plus“, die sich allerorten darangemacht hat, ihre Erfahrungen an die Jungen weiterzugeben. Über den „Schnockes“, den SPD-Nippes von der roten Kaffeetasse bis zum Windrädchen, muß Futran lachen. Ihr liegen Büchertische und Dokumentationsstände mehr. Daß JournalistInnen heutzutage mit dem Computer arbeiten, betrachtet sie mit Faszination. Aber sie selbst bevorzugt herkömmliche Methoden der Kommunikation. Der reale GenossInnentreff ist ihr allemal lieber als der „virtuelle Ortsverein“ mit seinen riesigen Monitoren.
Vor der Halle hatte am Morgen die Junge Union demonstriert. Auf ihren Plakaten stand: „Scharping bleibt unser Kanzlerkandidat, Kohl unser Kanzler“. Das, fürchtet Erica Futran, könne wohl wahr werden, wenn die Partei ihren langen, auch historischen Atem weiter im internen Streit aufbrauche. Ihr Wunsch für Mannheim ist: „Solidarität. Und damit ist eigentlich alles gesagt.“
Und trotzdem hat auch diese langgediente Genossin ihren Spaß an der Kontroverse. „This man has style“, hatte ein englischer Korrespondent ausgerufen, als Gerhard Schröder am späten Nachmittag mit seiner Ankündigung: „Ich kandidiere nämlich!“ für eine Schrecksekunde im Saal gesorgt hatte. „Ich sinniere“, meinte da die Bühnenfachfrau Futran kritisch, „ob der das wirklich geplant hat: Denn wenn das eine Inszenierung war, dann war sie glänzend.“
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