: Abrüstung der Geschichte
Zum ersten Mal haben sich Deutsche und Polen auf eine gemeinsame Darstellung der jüngsten Geschichte Schlesiens verständigt. Nach Wroclaw ist die Ausstellung „Wach auf, mein Herz, und denke“ nun in Berlin zu sehen ■ Von Michael Bienert
Vor dem Geschichtsmuseum von Wroclaw stehen ein paar leichte Geschütze herum, wie man sie von Bürgerkriegen aus den Abendnachrichten kennt. In dem ehemaligen Zeughaus der Stadt wird gerade eine Ausstellung abgebaut. Polnische Studentinnen ziehen einen Handkarren mit Flüchtlingsgepäck durch die Säle. Die Uniform eines KZ-Häftlings aus Groß-Rosen wird behutsam eingepackt. Die Habseligkeiten eines schlesischen Dienstmädchens wandern zurück in den geflochtenen Wäschekorb. Alles wird auf einer Liste für den Zoll abgehakt, denn den Exponaten steht eine Reise durch Deutschland und Polen bevor.
„Wach auf, mein Herz, und denke“, schrieb der schlesische Dichter Andreas Gryphius, nachdem der Dreißigjährige Krieg Zentraleuropa verwüstet hatte. So heißt auch die deutsch-polnische Gemeinschaftsausstellung über die Geschichte der Nachbarregionen Schlesien und Berlin-Brandenburg. Sie beginnt mit dem Foto eines steinernen Kriegshelden ohne Kopf. Es handelt sich um das einzige auf polnischem Gebiet erhaltene Denkmal des Alten Fritz. Seine Eroberung Oberschlesiens hat Preußen fast ruiniert, doch sie zahlte sich langfristig aus. Ein unermeßlicher Reichtum strömte seitdem ins preußische Kernland: Rohstoffe aus schlesischen Kohlegruben, Steinbrüchen und Eisengießereien, Töpferwaren aus Bunzlau, Glas aus der Josephinenhütte in Schreiberau, Schafwolle und Leinen, Karpfen und Zucker.
Arbeiter und Dienstmädchen aus Schlesien machten Berlin zur Millionenstadt. Carl Gotthard Langhans, ein schlesischer Architekt, entwarf die Ikone des deutschen Nationalbewußtseins – das Brandenburger Tor. Eine Firma aus Grünberg lieferte die Konstruktionspläne für die Berliner Hochbahn. Der Maler Menzel, der Dichter Eichendorff, der Sozialist Lasalle – sie alle stammen aus einem Kulturraum, dessen Geschichte für polnische Historiker und die deutsche Linke bis vor kurzem gleichermaßen tabu war.
Noch Anfang der neunziger Jahre wurden in Wroclaw Spuren der früheren deutschen BewohnerInnen gelöscht. Bei der Restaurierung eines alten Grenzsteins mit der Aufschrift „Breslau 1900/01“ wurde der alte deutsche Name ausgekratzt und statt dessen „Wroclaw“ eingemeißelt. Heute hängt in einem von jungen Leuten besuchten Café am Marktplatz fast unbeachtet ein Stadtplan der Jahrhundertwende mit deutschen Straßennamen. Das Touristenbüro verkauft Bücher mit dem Titel „Breslau 1945“. Stand nicht in jedem Polenreiseführer: Wer Karten und Bücher ohne polnische Ortsbezeichnungen mit über die Grenze nimmt, riskiert Kopf und Kragen?
Als Ellen Röhner und Ulrike Treziak von der „Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch“ vor zwei Jahren begannen, Partner für ihr Ausstellungsvorhaben zu suchen, waren sie auf Widerstände gefaßt. Zu ihrer Überraschung fanden sie ausgerechnet im „Instytut Ślașki w Opolu“ (Staatliches Schlesisches Institut Oppeln) engagierte Mitarbeiter. Bis 1990 bestand die Hauptaufgabe dieser Ideologiefabrik darin, nachzuweisen, daß Schlesien schon immer slawische Erde gewesen sei. Das Institut zementierte die Gegenposition zur Version der deutschen Vertriebenenverbände, wonach das Land urdeutsch und die Vertreibung nach dem verlorenen Krieg ein Verbrechen an Unschuldigen war.
Den Initiatorinnen gelang es, in dem verminten Gelände der Geschichtsschreibung Brücken zu bauen, auf denen sich Deutsche und Polen begegnen konnten. Die lange Liste der an dem Projekt Beteiligten und Leihgeber reicht vom Polnischen Sozialrat in Berlin bis zu Funktionären der Schlesischen Landsmannschaft, vom Warschauer Sportmuseum bis zur „Kongregation der Marienschwestern von der Unbefleckten Empfängnis“.
Das dialogische Konzept hat zu einer Aufblähung der Ausstellung geführt, die den Ausstellungsbesuchern viel Geduld abverlangt. Es ist zu spüren, wie schwer es fiel, zwei auf Unvereinbarkeit angelegte Versionen der Geschichte überhaupt erst zusammenzufügen. Bis zuletzt war nicht sicher, ob es gelingen würde, eine Darstellung zu entwickeln, die von Deutschen und Polen gleichermaßen akzeptiert werden konnte.
„Wir hatten uns darauf eingestellt, notfalls die deutsche und polnische Sicht auf parallelen Tafeln nebeneinander zu zeigen“, berichtet Ellen Röhner. Doch die polnische Seite war bisher zu unvorstellbaren Zugeständnissen bereit: Zum allerersten Mal wird in einer von Polen mitfinanzierten Ausstellung die „ethnische Säuberung“ der Jahre 1945/46 als „Vertreibung“ der Deutschen bezeichnet. Bisher war in Polen nur beschönigend von der „Aussiedlung der deutschen Minderheit“ die Rede. Der Tatbestand der rücksichtslosen Vertreibung galt als westdeutsche Geschichtslüge.
„Die Einigung mit den polnischen Kollegen fiel wahrscheinlich deshalb so leicht, weil sie schon immer um die historischen Fakten wußten, aber sich nie frei äußern durften“, meint Martin Düspohl. Eine Vermutung, die Wieslaw Lesiuk vom Instytut Ślașki bestätigt: „An den Fakten hat sich wenig verändert, nur an der Interpretation.“
Bei der Ausstellungsvorbereitung kam es den Polen vor allem darauf an, daß die grausame Vorgeschichte der Vertreibung angemessen gewichtet wurde. Dazu gehört der in Deutschland wenig bekannte Abstimmungskampf um Oberschlesien im Jahre 1921. Damals sollte sich die Bevölkerung des ethnischen Mischgebiets per Volksentscheid für die Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen entscheiden. Das Resultat war ein Flickenteppich von Abstimmungsbezirken, die sich für je einen der beiden Staaten entschieden hatten. Daraufhin teilten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges Oberschlesien. Das Scheitern dieser Lösungsstrategie vor Augen schrumpft die Hoffnung, es könnte gelingen, heute durch eine ähnliche Operation auf dem Balkan Ruhe zu schaffen.
Nur widerstrebend akzeptierten die polnischen Ausstellungsmitarbeiter, daß ein Hitlerplakat aus der Zwischenkriegszeit aufgehängt wurde: Ein Aufruf zu einer Kundgebung in Beuthen gegen die sogenannte „blutende Grenze“. Hitler benutzte das Reizthema Schlesien zur Legitimierung seines Angriffskrieges. Der inszenierte Überfall auf den Sender im deutschschlesichen Gleiwitz war das geeignete Mittel, den Überfall auf Polen vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Sofort nach dem Einmarsch der Wehrmacht rächten sich die Deutschen an allen Polen, die für die Abtrennung eines Teils von Oberschlesien gekämpft hatten. Viele polnische Verwaltungsbeamte wurden vom Schreibtisch weg erschossen.
Die Ausstellung räumt auch mit der Legende auf, die Polen hätten nach 1945 an Oder und Neiße ein blühendes Land vorgefunden und es seitdem planmäßig heruntergewirtschaftet. Es waren Flüchtlinge, die hier in verwüsteten Dörfern eine Bleibe fanden. Die große Mehrheit der heutigen Bevölkerung von Wroclaw stammt von sogenannten „Repatrianten“ ab. So nannte man bisher die Zwangsumgesiedelten aus den Gebieten, die durch die Westverschiebung Polens sowjetisch wurden. Über ihr Schicksal durfte im Sozialismus nicht offen gesprochen werden.
In Wroclaw hat es viele AusstellungsbesucherInnen tief bewegt, wie sehr sich die Bilder vom Flüchtlingselend der „Repatrianten“ und der vertriebenen Deutschen gleichen. Irene Sroka vom Instytut Ślașki hat eine überraschende Veränderung in der Selbstwahrnehmung der „Repatrianten“ bemerkt: Wenn diese über ihr Schicksal sprechen, dann verwenden sie jetzt immer öfter den Begriff wypędzenie, das polnische Wort für „Vertreibung“.
„Diese Ausstellung schlägt eine große Bresche in die polnische Mentalität. Sie bricht Stereotypen auf, und es gibt viele Leute, denen das nicht paßt“, sagt Maciej Lagiewski, Direktor des Breslauer Historischen Museums. Er hat sich besonders um die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte in Breslau verdient gemacht. Immer wieder wird er von nationalistischen Kreisen als „deutscher Propagandist“ beschimpft. Auch nach der Ausstellungseröffnung erhielt er wütende Anrufe aus der Regionalverwaltung. In Zukunft will er im Zeughaus wieder Säbel und Schießeisen zeigen. Daneben bereitet er für kommendes Jahr Ausstellungen zu Gerhart Hauptmann und Breslau im ersten Jahr unter polnischer Verwaltung vor.
„Für mich war die Ausstellung ein Schock“, erzählt Grzegorz Strauchhold, Spezialist für Nachkriegsgeschichte an der Universität Wroclaw. „Jahrelang habe ich in Archiven Dokumente zur Nachkriegszeit gelesen – aber viele der hier gezeigten Bilder bekam ich nie zu Gesicht.“ Strauchhold hat mit Hilfe von Fragebögen die Reaktion der AusstellungsbesucherInnen erforscht. Besonders ältere Leute und BesucherInnen mit niedriger Schulbildung fanden die Ausstellung „zu deutsch“. SchülerInnen und StudentInnen hingegen äußerten selten Zweifel an der Ausgewogenheit der Darstellung. Nicht zuletzt von den alltagsgeschichtlichen Perspektiven der Kreuzberger Historikerinnen waren sie fasziniert. Daß es möglich ist, Geschichte konsequent aus der Sicht der kleinen Leute zu erzählen, war vielen neu.
Es sei absurd, sagt die Geschichtsstudentin Anja, daß sich die polnische Geschichtsschreibung auf die slawischen Herrscherdynastien des Mittelalters konzentriere: „Aber Gerhart Hauptmann und die zwölf Nobelpreisträger, die von hier stammen, kennt niemand.“ Wie viele Nachfahren der „Repatrianten“, fühlt sich auch Anja als Schlesierin. Sie will Geschichtslehrerin werden und ihren SchülerInnen vermitteln, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft in ihrer Heimat zusammengelebt haben. Aus der Vergangenheit hat sie ihre eigene Lehre gezogen. „Die ganze Nationalgeschichtsschreibung ist doch nur Vorbereitung für den Krieg. Es wird Zeit, sich der Geschichte ohne Vorurteile zu nähern.“
Vom 19. November 1995 bis 15. Januar 1996 im Kreuzberg-Museum, Berlin. Ab 25. Januar 1996 im Potsdam Museum, danach in Görlitz, Gleiwitz, Beuthen und Frankfurt (Oder). Ein zweisprachiges Begleitbuch, 600 Seiten, mit 400 Abbildungen erschien im Verlag Laumann-Polska, Petersdorf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen