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Verlassen in der Krajina

Nach dem Sieg Kroatiens ließen die serbischen Flüchtlinge 8.000 alte Menschen zurück. Viele sind krank und werden ohne Hilfe nicht überleben  ■ Aus Zagreb Rüdiger Rossig

Branko Jovanović hat lange mit dem Tod gerungen. Anfang des Jahres, Monate, ehe die kroatische Armee im August die „Serbische Republik Krajina“ eroberte, war der 85jährige schwer erkrankt. Die schlimmste Zeit im Leben von Branko Jovanović jedoch begann, als seine Familie – zwei Söhne mit ihren Frauen und Kindern – und seine anderen Nachbarn im Dorf am 4. August ihre Sachen packten und in Richtung Serbien verschwanden.

„Wir haben Branko vor zwei Monaten in seinem Bett gefunden“, berichtet Stefanie Bond, Mitarbeiterin der „Menschenrechts-Aktions-Teams“ der UNO (UNHRAT). Die Helferin hat einen Videofilm aufgenommen, um den Zustand des alten Mannes zu dokumentieren: „Er war halb verhungert, das Bett war naß, und das Zimmer voller Exkremente“, erinnert sich die blonde Enddreißigerin aus den USA. Mehr als drei Stunden dauerte es, bis Stefanie Bond den alten Mann einigermaßen gesäubert hatte. „Danach sind wir ins UN-Hauptquartier gefahren und haben frisches Bettzeug und Essen geholt.“ Um den ausgehungerten Körper des alten Mannes wieder etwas zu stärken, „kochten wir Kekse aus den Überlebenspaketen der US-Armee mit Milch und fütterten ihn damit“, erinnert sich die UN-Mitarbeiterin. Branko Jovanović hatte seit Wochen nichts mehr gegessen. Doch all die Mühe hat nichts genutzt: Vor einer Woche ist der 85jährige gestorben.

„Er muß versucht haben, sich an dem Stuhl neben seinem Bett hochzuziehen“, berichtet der spanische UN-Offizier Alvarez, der die Leiche des alten Mannes fand. „Er hing halb auf dem Stuhl, ein Bein war aus dem Bett gerutscht und hing halb auf dem schmutzigen Steinfußboden. Wahrscheinlich hat sich das Leben noch einmal in ihm aufgebäumt, und er versuchte aufzustehen...“

Seit August leisten der UN-Militärbeobachter und seine Kollegen Notfallhilfe in der fast völlig entvölkerten Region entlang der kroatisch-bosnischen Grenze – militärisch gibt es in den ehemaligen UN-Sektoren Nord, Süd und West nämlich nichts mehr zu beobachten. Die „Armee“ der Krajina-Serben hatte sich im August aufgelöst, als die kroatischen Truppen die Demarkationslinie überschritten. Ein paar ausgebrannte Lastwagen und eine Menge leere grüne Munitionskisten mit kyrillischer Aufschrift sind die einzigen Reste der einstmaligen Herrlichkeit serbischen Militärs in der Region.

Deutlich sichtbar sind dagegen die Effekte von knapp vier Jahren Krieg in der ehemaligen „Serbischen Republik“ in Kroatien, wo im Frühjahr 1991 der militärische Konflikt um die mehrheitlich serbisch besiedelten Gebiete der bis dahin jugoslawischen Republik begonnen hatte. 60 bis 70 Prozent der Häuser sind schwer beschädigt oder zerstört – 1991 hatten serbische Aufständische und „Tschetnik“-Milizionäre aus Serbien die Höfe ihrer bisherigen kroatischen Nachbarn niedergebrannt, seit August zünden Kroaten serbische Höfe an. In keiner der Fabriken in den bisherigen UN-Sektoren Süd, Nord und West wird gearbeitet, die Maschinen stehen still.

Rückkehrende Kroaten, die 1991 von rebellierenden Serben vertrieben worden waren, lassen sich vorzugsweise in den Städten nieder. Die Dörfer sind weitgehend menschenleer. „Es hat Wochen gedauert, bis wir einigermaßen einen Überblick hatten, wo noch Menschen leben“, berichtet UN-Militärbeobachter Alvarez. Nach wie vor finden er und seine Kollegen auf ihren Patrouillen Leichen in entlegenen Höfen und in den Bergsiedlungen entlang der bosnischen Grenze. „Eigentlich dürfen wir die Fälle nur an die kroatischen Behörden weiterleiten“, so Alvarez, „humanitäre Hilfe gehört eigentlich nicht zur Aufgabe eines Militärbeobachters.“

Doch die kroatische Verwaltung reagiert nur schleppend. Kaum eines der Dörfer in den Kreisen Topusko, Glina und Petrinja im ehemaligen Sektor Nord wurde bisher von den vier Teams des kroatischen Roten Kreuzes besucht. Dies hatte das Ministerium für Soziales in Zagreb Anfang November nach wochenlangen Protesten von UNO und regierungsunabhängigen Hilfsorganisationen (NGOs) zugesagt. Große Teile der humanitären Notfallhilfe leisten daher die zivilen und militärischen UN-Agenturen vor Ort.

Ana Zugaj weiß warum. Etwas verschämt berichtet die Mitarbeiterin des Roten Kreuzes in Topusko im äußersten Südosten des ehemaligen UN-Sektors Nord von den Schwierigkeiten ihrer Organisation: „Bis vor zwei Tagen hatten wir nicht einmal ein Auto“, sagt sie. Bürokratische Hürden erschweren die Arbeit zusätzlich: „Unsere lokale Gruppe hat zwar immerhin fünf Mitarbeiter, konnte aber bisher nicht registriert werden.“ Damit entfalle für das Rote Kreuz in Topusko aber auch die Möglichkeit, selbständig Zuschüsse zu beantragen, ein eigenes Büro einzurichten oder Personal einzustellen. Das geplante Altersheim ist nach wie vor eine Baustelle, die 50 Betten in der Notaufnahme des provisorischen „Medizinischen Zentrums“ im Nachbarkreis Petrinja sind seit Wochen überbelegt.

Was den kroatischen Rotkreuzlern bleibt, sind tägliche Besuche bei den bekannten „Omas“ und „Opas“ und die Suche nach weiteren verbliebenen Greisen – meist als Begleiter der UN-Militärbeobachter, der UN-Zivilpolizei (CivPol) oder der „Menschenrechts- Aktions-Teams“ der Vereinten Nationen. In den meisten Fällen werden die Besucher von den vereinsamten alten Menschen freudig empfangen. Doch die gemischten Notfallteams aus UN und Rotem Kreuz haben wenig Zeit: Essen wird ausgegeben, Namen werden registriert, dann müssen die hilflosen Helfer weiter.

„Uns läuft die Zeit weg“, weiß Stefanie Bond. Nicht nur, daß die Hilfskapazitäten vor Ort völlig überlastet sind – seit der erfolgreichen „Aktion Sturm“ und dem anschließenden Exodus von rund 140.000 Menschen aus der Krajina reduziert die UNO ihr Personal in den „befreiten Gebieten“ Kroatiens zudem beständig. Das UN- Mandat für Kroatien läuft in zwei Monaten aus. „Dann werden hier nur noch ein paar wenige Militärbeobachter und Human-Rights- Leute arbeiten“, sagt Stefanie Bond. Das sei, so versichert sie, bei weitem nicht genug, um den Menschen wirklich zu helfen. Angesichts des Winters müßte die Hilfe eigentlich verstärkt werden. Geschieht dies nicht, steht in diesem Landstrich eine noch größere humanitäre Katastrophe bevor, versichert UN-Mitarbeiterin Bond. Viele der alten Menschen, die schon jetzt während der Nächte frieren, haben nicht die Kraft, Holz zu hacken. Viele können sich nicht einmal mehr selbst ernähren. Und die entlegenen Dörfer, in denen die Alten leben, sind selbst im Frühjahr und im Herbst nur mit geländegängigen Fahrzeugen zu erreichen. Seit dem ersten Schnee sind die Siedlungen in den Bergen endgültig von der Außenwelt abgeschnitten.

Vojslava Dimitrijević ist 65 Jahre alt. Die stämmige Bäuerin gehört zu den wenigen in den Bergen, die eine reale Chance haben, die kalte Jahreszeit zu überleben. „Ich bin geblieben, um den Hof zu beschützen“, sagt sie. Zweimal ist Vojslava seit August die 70 Kilometer nach Virginmost gelaufen, um sich kroatische Papiere ausstellen zu lassen und damit den Anspruch ihrer Familie auf die Äcker um das Dorf zu sichern. „Das erste Mal haben mir die kroatischen Polizisten gesagt, ich solle in ein paar Wochen wieder kommen, wenn die Verwaltung wieder funktioniere“, berichtet die Bäuerin, „beim zweiten Mal fehlte irgendein Papier.“ Sie frage sich mittlerweile, ob es wirklich eine weise Entscheidung gewesen sei, in Kroatien zu bleiben und erkundigt sich nach Möglichkeiten einer Ausreise nach Serbien. Doch damit wird es zumindest vor Beginn des Frühjahres nichts werden – zum Glück für Jovanka Ostijević, ihrer 75jährigen Nachbarin, der sie jeden Tag hilft. Ohne ihre einzige verbliebene Bezugsperson hätte die 75jährige keine Chance. „Diejenigen, die nicht ganz alleine sind, haben es relativ gut“, sagt Stefanie Bond, „besonders wenn, wie hier, eine von ihnen Kraft genug hat, sich um Feuerholz und Nahrung zu kümmern.“

Zudem hilft die Zweisamkeit ein wenig gegen die Angst vor den Plünderern, die die Krajina nach wie vor heimsuchen. „Besonders am Wochenende wimmelt es hier von Wagen mit Kennzeichen aus Kroatien und Bosnien“, sagt UN- Militärbeobachter Alvarez. Dabei gibt es in den fast menschenleeren Ortschaften mittlerweile kaum noch etwas zu holen. Unter anderem deshalb, so glaubt der Spanier, zünden die ungebetenen Gäste zum Teil ganze Ortschaften an, schlachten willkürlich umherirrende Pferde, Hunde, Kühe und Schweine. Und zuweilen verschonen sie nicht einmal die wenigen zurückgebliebenen Menschen: Ein paar Kilometer südlich von Vojslava Dimitrijevićs Haus liegt ein halb verwester Leichnam am Wegesrand. Der Hut der Leiche liegt ein paar Zentimeter oberhalb des Kopfes, an dem die Haut wie bei einer Mumie eingeschrumpelt ist. „Am Hinterkopf hat er eine Fraktur, wir vermuten, daß ihm der Schädel eingeschlagen worden ist“, sagt UN-Offizier Alvarez. „Es kann aber auch sein, daß er erschossen wurde und daß die Knochenbrüche später von streunenden Schweinen verursacht wurden.“

Vor zwei Monaten hat der Kastilier die kroatische Polizei zum ersten Mal über die Leiche informiert. „Es ist immer dasselbe, sie sagen jaja, schreiben es auf, und nichts passiert“, sagt Alvarez deprimiert. „Einen Mann haben sie von August bis vor zwei Wochen auf der Bank vor seinem Haus sitzen lassen. Im Spätsommer hat das entsetzlich gestunken, vielleicht haben sie ja deshalb so lange gewartet, bis sie die Leiche abgeholt haben.“ Mittlerweile ist es kalt geworden in der Region – der Geruch friert quasi ein, und auch mögliche Erreger sterben ab.

Branko Jovanović lag fünf Tage tot in seinem Bett, bevor er endlich beerdigt wurde. Ein schlichtes Holzkreuz steht auf dem noch frischen Grab auf dem kleinen serbischen Friedhof neben dem Dorf. „Wir hoffen, daß er nicht religiös war“, sagt Stefanie Bond – kein einziger serbisch-orthodoxer Pope ist in der ehemaligen „Serbischen Republik Krajina“ verblieben, und die Anreise eines Priesters aus Zagreb wäre – nur wegen eines alten Mannes – zu umständlich gewesen.

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