: Im Westen zuwenig, im Osten zuviel
Kita-Plätze: Im Osten herrscht Überangebot, im Westen Mangel. OsterzieherInnen bekommen Jobs in München angeboten. Ab 1. Januar gibt es einen Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze ■ Von Vera Gaserow
Die Situation ist paradox und widerspricht so ganz allen wirtschaftlichen Analysen: Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung ist die ehemalige DDR ein Land im Überfluß, die alte BRD eines mit staatlich geplanter Mangelwirtschaft. Verquere Welt? Zumindest in diesem einen Punkt: Wenn zum 1. Januar 1996 der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Dreijährige bundesweit in Kraft tritt, dann zerfällt die wiedervereinigte Republik in zwei seitenverkehrte Hälften.
Der Westen ist das Entwicklungsland, das an chronischer Unterversorgung mit Kindertagesstätten leidet. Der Osten dagegen ist die saturierte Region, die mit der Einsicht hadert, daß sie über die eigenen Verhältnisse lebt. Rund 400.000 Kita-Plätze fehlten in den Westbundesländern, wenn der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung zum 1. Januar tatsächlich eingefordert würde, schätzt der Deutsche Landkreistag. Die Westländer wollen daher „Stichtage“ für die Umsetzung einführen. In den neuen Bundesländern hingegen ist das Plansoll in Sachen Kindereinrichtungen seit Jahren übererfüllt.
Der Annäherungsprozeß im Osten ist schmerzhaft und mit Massenentlassungen und Schließungen von Kindereinrichtungen verbunden. Zwei Beispiele: 1991 zählte die Stadt Leipzig noch 394 Kindereinrichtungen mit 32.000 Plätzen. 1999 werden es gerade noch 200 Einrichtungen mit 10.000 Plätzen sein. Dresden wird im nächsten Jahr 36 Kindereinrichtungen schließen müssen, dabei hat die Stadt den Bestand seit dem Wendejahr 89 schon von 370 auf 215 reduziert. Dennoch wird es auch im nächsten Jahr wieder mehr Kita-Plätze als Kinder geben. Die Stadt hat eigentlich 230 ErzieherInnen zuviel.
„Es ist schon eine Ironie der Geschichte“, sinniert Dresdens Jugenddezernent Jörg Stütemann, „der Westen schafft es nicht, die Kita-Platz-Garantie zu erfüllen, und wir mühen uns, von unserem 120-Prozent-Niveau auf 100 runter. Wir haben einfach ein massives demographisches Problem.“
Das „demographische Problem“, der Geburtenrückgang, schafft neue Probleme. Wenn ostdeutsche Städte und Gemeinden ihren „Personalüberhang“ abbauen, so müssen sie das nach sozialen Gesichtspunkten tun. Die jüngeren ErzieherInnen werden als erste entlassen, die Dienstälteren – mit jahrezehntelanger DDR- Krippen- und Horterfahrung auf dem Buckel – bleiben. So drohen die Kindereinrichtungen Ostdeutschlands langsam aber sicher zu überaltern.
„Mangels Masse“ müssen in vielen Städten nicht ausgelastete Kindereinrichtungen zusammengelegt werden. Oft werden sie bei dieser Gelegenheit gleich umquartiert, denn auf den schön gelegenen, alten Villen, in denen sie zu DDR- Zeiten untergebracht waren, ruhen jetzt die Rückerstattungsansprüche von Alteigentümern. Das neue Domizil ist dann häufig ein monotoner Plattenbau. Die Eltern, aus DDR-Zeiten gewohnt, sich mit „ihrer“ Kindereinrichtung stark zu identifizieren, quittieren den Wechsel mit Proteststürmen – mancherorts auch mit irrationalen Argumenten. Als in der Dresdener Lise-Meitner-Straße zwei Kitas, gerade mal 800 Meter voneinander entfernt, zusammengelegt werden sollten, erklärten Eltern und Erzieherinnen beider Einrichtungen gleichermaßen, der Umzug in die jeweils andere sei „völlig unzumutbar“.
Die Vollversorgung mit Kita- Plätzen ist ein positives Relikt der alten DDR. Allen Finanznöten zum Trotz stehen die ostdeutschen Bundesländer im Vergleich zu den westlichen noch immer wie Luxusländer dar. Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg haben den jetzt bundesweit festgeschriebenen Anspruch auf einen Kita-Platz längst in ihren Landesgesetzen verankert. Sachsen-Anhalt hat in seinem Kinderbetreuungsgesetz sogar gerade die Mindestgruppenstärke für Kitas auf sechs Kinder reduziert, damit auch in dünnbesiedelten ländlichen Gebieten die Kinderbetreuung gewährleistet bleibt. Und fast überall in den neuen Bundesländern gibt es nicht nur eine Kindergarten-, sondern auch eine faktische Krippen- und Hortplatzgarantie.
Während sich die alten Bundesländer mit vierstündiger Halbtagsbetreuung um ihr Pflichtpensum an Kita-Plätzen schummeln, sind ostdeutsche Kindergärten und Horte meist zwölf Stunden am Tag geöffnet – und sei es nur, um die Vollbeschäftigung der ErzieherInnen zu sichern.
Die Ausgangssituation in Ost und West ist so unterschiedlich, daß selbst die Gewerkschaften beim Brückenschlag resignieren. „Im Westen steigen uns die ErzieherInnen auf die Barrikaden, wenn wir versuchen, den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz zum 1.Januar durchzusetzen“, stöhnt Sigrid Ihrig, zuständige Abteilungsgeschäftsführerin beim Hauptvorstand der ÖTV, „für die ErzieherInnen im Westen würde das eine Gruppenstärke von 25 bis 30 Kindern bedeuten, und unter den Bedingungen will niemand mehr den Job machen.“ Im Osten hingegegen gehen die ErzieherInnen auf die Straße, wenn jetzt, wie in Sachsen, die Gruppenstärke von 12 auf 13,5 Kinder erhöht werden soll. Dort steht die Angst vor Entlassungen im Vordergrund, im Westen die vor Überlastung.
Rein statistisch ließen sich die Probleme als Nullsummenspiel lösen: den Mangel hier mit dem Überfluß dort ausgleichen. Beim Deutschen Städtetag versucht man das auch. Finanziert vom Bundesfamilienministerium vermittelt eine Stellenbörse zwischen Überangebot und Nachfrage. Rund 5.000 ErzieherInnen aus Ostdeutschland haben sich dort in den vergangenen zwei Jahren nach Arbeitsmöglichkeiten in westdeutschen Gemeinden erkundigt. Doch nur in einigen hundert Fällen kam eine Vermittlung auch tatsächlich zustande. Die meisten ostdeutschen ErzieherInnen suchen nach Jobs in Grenznähe, und dort sind die Angebote schon seit langem abgegrast. „Die Bereitschaft zur Mobilität ist sehr, sehr gering“ beobachtet Gewerkschafterin Ihrig. Daß der Alltag – aus vielerlei Gründen – nicht wie eine statistische Gleichung aufgeht, hat man auch in Dresden erfahren: Als im Rathaus 150 Stellenangebote für ErzieherInnen der Stadt München aushingen, ging die Resonanz gen Null.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen