: Kleiner Hang zur Fälschung
Auf ins digitale Zeitalter: Zwei Münchner Ausstellungen suchen ein neues Konzept der Fotografie ■ Von Ulf Erdmann Ziegler
I.
Die Tauglichkeit der Online- Dienste für Künstler(innen) und ihr Publikum untersucht ein Bericht von Robert Atkins, der in diesem Monat als Titelgeschichte der amerikanischen Kunstzeitschrift Art in America erschien. Sein Resümee ist löchrig gestrickt um die heikle Frage, ob die Flüchtigkeit und Manipulierbarkeit der anwählbaren digitalen Systeme den bildenden Künsten aufhelfen oder sie vertreiben werden: „Einerseits scheint Virtualität keinen Platz zu haben in einem System, das auf Materialität abgestellt ist. Andererseits sind konzeptuelle und neokonzeptuelle Ansätze dabei, die gegenwärtige Kunst anzutreiben.“ Die optimistische Prognose, die dann folgt, impliziert allerdings einen Gedanken, den man nicht überlesen darf: „Letztendlich aber werden Kräfte von außerhalb der Kunstwelt den Ruck in Richtung Online-Kunst auslösen.“ Oder anders gesagt: Je mehr die Kunst eine Kunst-zum-Mitmachen ist, desto laienhafter fällt sie aus.
Während viele Museumssammlungen stagnieren, junge und gar nicht mehr so junge Künstler(innen) sich mit der Armut einrichten, muß der Druck beträchtlich sein auf die Institutionen, sich mit einer Technik anzufreunden, die vielleicht und eventuell so etwas wie eine Kunst-der-Massen hervorbringen könnte. Nur so kann ich es mir erklären, daß eine Ausstellung zustande kommt, die „Fotografie nach der Fotografie“ heißt und zur Zeit in den hell erleuchteten Kellergewölben des Aktionsforums Praterinsel in München ihre erste Station hat. Der Titel ist mit Geschick gewählt, weil er zweierlei suggeriert: daß es etwas nach der Fotografie gäbe (etwas, was später kommt); und andererseits eine neue Fotografie, die nach alter Fotografie gemacht ist, also eine Adaption wie „Brasch nach Shakespeare“.
Keiner der Künstler von „Fotografie nach ...“ ist online, aber einige der Onliner aus dem Atkins- Bericht tauchen in dieser Ausstellung wieder auf mit Vorrichtungen (Installationen wäre euphemistisch), die auf CD-ROMs oder ähnlich leistungsfähigen Speichermedien beruhen. George Legrady zum Beispiel mit einem Bildschirm, in den man einen kurzen Satz eingeben soll; der wird dann umgerechnet in ein „algorithmisiertes Wolkenbild“. Der Witz besteht, wenn ich das richtig erfaßt habe, darin, daß die Wolkenbilder ziemlich wolkig sind und über die Struktur des Satzes nichts besagen. Legradys Bezug ist die berühmte Äußerung des Fotografen Alfred Stieglitz, der – als er 1922 eine Wolkenserie fotografiert hatte – behauptete: „Formen als solche interessieren mich nur insoweit, als sie eine äußere Entsprechung dessen sind, was bereits in mir Gestalt annimmt.“ Die plumpe Negierung dessen, was im Strukturalismus wenig später der „Referent“ genannt wurde, gehört allerdings zu den belächelten Explikationen der Fotografiegeschichte. Es wäre vergleichbar, wenn man Picassos „Ich suche nicht, ich finde“ mit einem Osterhasendiagramm zum Leben erwecken wollte. Oder berlinerisch gesagt: Nachtigall, ick hör dir trapsen.
Weil Florian Rötzer zu den Organisatoren gehört, war ich überzeugt, daß das Ausstellungsprogramm im freien Flug und mit hohem Adrenalinausstoß unterwegs ist in den Cyberspace; war dann erstaunt, in seinem Aufmacheressay des Katalogs Spuren von Zweifel zu finden, eine irgendwie gebremste Begeisterung für das Digitale. Dennoch transportiert er eine Annahme, die wohl etliche seiner Künstler(innen) mit ihm teilen, nämlich, daß die Manipulation von fotografischen Bildern die „Naivität“ gegenüber Fotografien abbaue oder zerstöre.
Nur: welche Naivität eigentlich? Der Mißbrauch von Fotografien in der politischen Propaganda von Stalin bis McCarthy ist den Bewohnern der westlichen Hemisphäre doch recht geläufig. Und das Wissen, daß der fotografische Ausschnitt nicht nur etwas zeigt, sondern auch etwas wegläßt, ist ein derartiger Gemeinplatz geworden, daß die Satirezeitschrift Titanic sogar eine Serie dazu laufen hatte („Was die Kamera verschweigt“) – die den Gemeinplatz gezielt ins Altkluge verwies.
II.
Es steht zu befürchten, daß diejenigen, die sich die Fotografie so wichtigtuerisch vorknöpfen, von ihrer Geschichte und Theorie nicht ganz so durchdrungen sind wie sie vorgeben. „Den ersten Schlag erhielt die Fotografie mit der Erfindung des Films“, schreibt Rötzer, (um dann fortzuschreiten zu weiteren Schlägen wie Fernsehen und Video) – der Film ist aber hundert Jahre alt und die Fotografie hat in eben diesen hundert Jahren erst ihre umfassende Bedeutung gewonnen: in der Medizin, bei der Justiz, der Presse, in den Familien; und in der Kunst. Ja, daß diese Ausstellung so heißt, wie sie heißt, liegt überhaupt nur daran, daß Fotografie im Kunstbetrieb zu den neuen geliebten Medien gehört. Und die größten Leistungen der Autorenfotografie – wie die von Diane Arbus – fallen in eine Zeit, in der das Fernsehen längst durchgesetzt ist. Natürlich kann man Fotografien manipulieren, und es ist auch richtig, daß diese Tendenz von der Produktwerbung (wo das highlighten und schattieren mit der Spritzpistole an Fotos seit Jahrzehnten üblich ist) übergreift in die redaktionelle Gestaltung vor allem der Illustrierten und auch der farbigen Nachrichtenmagazine. Aber nicht eine einzige Arbeit in dieser Ausstellung, die sich so welterfahren gibt, beschäftigt sich investigativ mit dem kleinen Hang zur Fälschung – was doch für unsere Schwärme von „Neokonzeptualisten“ ein gefundenes Fressen sein müßte.
Statt dessen manipuliert man lieber selber, wobei es der einen besser gefällt, wenn die Betrachterin das gleich merkt, während es dem anderen lieber ist, wenn der Betrachter stutzt. So das Katalog- und Plakatmotiv von Keith Cotting
Fortsetzung auf Seite 16
Fortsetzung
ham, das eine irgendwie synthetisierte Knabengestalt vor dunklem Hintergrund in geringen physiognomischen Varianten vermehrfacht. Die Suggestion des Motivs würde nicht leiden, wenn der zum Androgynen neigende Halbnackte in Acryl gemalt wäre. Der Doppelgänger ist gewiß nicht der Triumph der digitalen Ressource.
Die meisten der ausgestellten Werke wollen unverblümt belehren, worin die Arbeiten mit den beigestellten Erläuterungen konkurrieren. Lynn Hershman: „Über die Assoziationskette Gewehr/Kamera/Abzug sind Mediendarstellungen und tödliche Waffen zwangsläufig miteinander verbunden“ – aber wie sie verbunden sind, bleibt auch dann vage, wenn man das von ihr aufgestellte Bildergewehr betätigt. Eine mehrteilige Arbeit mit Pornobildern, die durch Störraster bis gegen Null entschärft sind, sagt nichts über Gier und nichts über Zensur. Eine Folge von digitalen Prints zeigt Gesichter, bei denen Münder und Nasen mit gewöhnlicher Haut zugewachsen sind; die Arbeit sagt nichts über die Gefahren der Gentechnologie, aber viel über das Gestümper am Computer. Vor allem fehlen die großen Leuchtkästen des Kanadiers Jeff Wall, der fotografisch fixierte Einzelszenen zu gigantischen Momenttableaus digital montiert. Er wäre das Paradepferd der Titelthese. Selbst im Kataloganhang von siebzehn „abwesenden“ Künstlern und Künstlerinnen kommt er, der ein alter Meister der Neuheit ist, nicht vor.
„Fotografie nach der Fotografie“ leidet vor allem daran, daß die Arbeiten fast sämtlich blaß und leblos wirken, frei sind von jeglicher Aura. Das Gegenteil allerdings gilt für einen schwarzen Studiertisch von Jeffrey Shaw mit horizontal eingelegtem Bildschirm, der über Mausklick eine magische Reise zu „unsichtbaren Städten“ anbietet, wobei die Vergrößerung des Ausschnitts bis hinunter zum Pixel den Durchbruch in eine darunter gelegene (oder darunter imaginierte) Ebene auslöst. Neun verschiedene Erzählungen – aus weißen Lautsprechern, deren Lautstärke man selbst regulieren darf – begleiten die Reise, je nachdem, in welche Region der Planetenskizze, die als Deckblatt dient, man sich hineinwählt. Die bizarren Texte von Dirk Groeneveld, in britischem und amerikanischem Englisch gesprochen, sind der beste Text der ganzen Show, sämtliche Erläuterungen und Soundtracks inbegriffen. Daß Shaw/Groenevelds „The Narrative Landscape“ die aktuelle CD-ROM-Fassung einer zehn Jahre alten Arbeit ist, wirft ein realistisches Licht auf den behaupteten Fortschritt der Ausdrucksformen durch technische Logistik. Jeffrey Shaw ist übrigens seit diesem Jahr Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.
III.
Trotz der vorsichtiger gewordenen Apologie will „Fotografie nach der Fotografie“ zumindest die Ahnung eines Paradigmenwechsels heraufbeschwören und kann ihn dennoch kaum belegen. Eine parallele Ausstellung in München liest sich wie ein Hinweis, warum das so ist. Sie zeigt die Arbeit des kalifornischen Grafikdesigners David Carson, der mit der abenteuerlichen Totalgestaltung einer Rock- und Lifestyle- Zeitschrift namens Ray Gun in der Fachwelt Furore gemacht hat und zudem eine populäre Gestalt ist, die erste nach Neville Brody. Die Neue Sammlung zeigt einen ganzen Saal Ray Gun mit Doppelseiten, Titelseiten und Inhaltsverzeichnissen (die als solche eigentlich nicht zu erkennen sind). Ein schnörkelloses fotografisches Bild kommt bei Carson fast nicht vor, und wenn doch – das ganzseitige Schwarzweißportrait unseres allseits verehrten Melancholikers Morrissey – dann wirkt es ungeheuer theatralisch. Ansonsten ist Fotografie für Carson ein grafisches oder farbliches Zeichen. Die vibrierenden Konglomerate und stakkatohaften Portionierungen seiner Illustriertenseiten sind eine Reinterpretation des Journalismus: als Intervention mit allen Mitteln. Carson versucht die Rollenfunktion von Bild und Text – konventionell: das Foto weckt das Interesse, der Text befriedigt es – aufzubrechen, soweit das möglich ist. Insofern ist er nicht nur „nach der Fotografie“, sondern auch „nach dem Text“. Nach der Fotografie ist die Typografie und andersherum – vorausgesetzt, daß es eine Vision gibt, die am Bildschirm (und seinen Standardprogrammen) nicht endet, sondern beginnt.
Die Carson-Ausstellung ist aber nicht nur leuchtendes Environment für Beispiele seiner Arbeit, sondern gibt sich mit Videoprojektion und raumhohen Motivfahnen als Totalinstallation. Eigenartigerweise wendet sie sich dabei ähnlich ins Hohle wie „Fotografie nach der Fotografie“ auch. Die neuen Technologien verlieren offenbar an Suggestion in dem Maß, wie unter den Vorgaben von „Kunst“ auf ihre Potenz verwiesen wird.
Fotografie nach der Fotografie, bis 8. 2. 1996 im Aktionsforum Praterinsel, München; danach Krems (A), Erlangen, Cottbus, Odense (DK) und Winterthur (CH). Der Katalog (Verlag der Kunst) kostet in der Ausstellung 58 DM.
David Carson: Zeichen der Zeit, Neue Sammlung, bis 14. 1. 1996. Der Katalog (Bangert Verlag) kostet in der Ausstellung 48 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen