■ Schlagloch: Please hold the line Von Nadja Klinger
„Herr Bahro, was sagen Sie dazu, wie der Westen mit der DDR aufräumt?“
Frage von Günter Gaus an Rudolf Bahro, „Zur Person“, ORB, 27.1. 1996
Was Günter Gaus wissen will, ist in den letzten Jahren von verschiedenen Leuten so oft beantwortet worden, daß es eher fragwürdig ist, ob man das noch als Frage durchgehen lassen kann. Rudolf Bahro findet auch, daß das keine Frage mehr ist: „Das ist die verdammte Normalität. Es wird immer das exportiert, was zu Hause die Struktur ist.“ Mehr sagt er dazu nicht. Ich frage mich schon lange und immer aufs neue: Warum räumt der Osten nicht im Westen auf? Räumen wir Ostler überhaupt auf? Nein. Wir haben immer noch all das an uns, was wir schon immer an uns hatten.
Es gibt ein paar beispielhafte Orte dafür. Das sind Bürohäuser, in denen wir Ostler uns selbst verwalten beziehungsweise das, was uns angeblich so wertvoll ist: unsere Kindertagesstätten, unsere Freizeitstätten, unsere Kultureinrichtungen, unsere Wohnungen, unseren Kiez. An diesen Orten schütteln wir unentwegt die Köpfe, denn die Finanzmittel sind gestrichen worden. Die Ostler in den Büros verbünden sich nicht mit den Ostlern, die von den Streichungen betroffen sind, sondern wehren sie ab. Nur zu Sprechzeiten darf der Bürger sprechen, nur zufällig sitzt er weniger als eine Stunde im Wartezimmer, nur mit viel Glück bekommt er jemanden ans Telefon. Please hold the line. Erreicht er nichts, entspricht es seiner Erwartung, erreicht er doch etwas, empfindet er das als Zufall oder Gnade. Alles ist so, wie wir Ostler es schon einmal hatten: Die Umstände frustrieren, aber jeder, der in irgendeinem Büro irgendwas zu sagen hat, ist viel frustrierender.
Im Prenzlauer Berg sind 90 Prozent der Häuser mit Restitutionsansprüchen behaftet. Irgendwo werden seit geraumer Zeit diese Ansprüche geprüft, und irgendwann wird über sie entschieden. Die Wohnungsbaugesellschaft möchte in die Wohnungen kein Geld mehr stecken, sie aber vermieten. Es gibt genug Leute, die in Not sind. In der DDR haben die Mitarbeiter gelernt, solche Leute zu finden und mit ihnen einig zu werden. „Sie müssen die Wohnung nicht nehmen“, sagt Kollegin L. gern. Kollege P. beteuert hinter seinem Schreibtisch: „Mir sind die Hände gebunden.“ Er benutzt aber doch seine Hände und legt die Mängelliste für eine Wohnung im vierten Stock auf den Tisch. Wer einziehen will, muß unterschreiben, daß er damit einverstanden ist, daß die Fenster eigentlich keine Fenster mehr sind, die Dielung teilweise gebrochen ist, das Dach undicht ist, daß Heizung und Gasherd alt und unberechenbar sind.
Ein paar Straßen von Frau L. und Herrn P. entfernt steht das Haus, um das es geht. Die meisten Bewohner leben schon ihr ganzes Leben hier. Der Mieterschutzbund hat sie informiert, daß in ihrem Wohngebiet das soziale Milieu staatlich geschützt werden soll. Die Menschen, die den Kiez geprägt haben, sollen hierbleiben. Keinen von ihnen interessiert das Milieu. Sie haben Angst um ihre Wohnung. Sie glauben fast alles und warten.
Sie sitzen in dicken Sachen hinter ihren undichten Fenstern. Es gibt das Gerücht, daß der Verkauf des Hauses unmittelbar bevorsteht. Das Gerücht dringt durch den muffigen Hausflur, hinter jede Tür. Es gibt keinen Ausblick, es gibt nur Eisblumen. Das Haus steht im Tief „Erich“. Die Kohlen werden knapp. Es zieht durch das Dach. In den Bädern frieren die Rohre ein. Die Wohnungsbaugesellschaft ist nicht zuständig. Zum Ersten werden die Betriebskosten erhöht, teilt sie per Post mit. Im dritten Stock ist eine Familie längst ausgezogen. Der Vater aber ist in der Wohnung noch zugange. Er reißt die Fliesen aus dem Bad und tapeziert. Er streicht die abgezogenen Holztüren weiß und die Dielen braun. „So sind die Vorschriften“, sagt Herr P. „Die Wohnung ist ,besenrein‘ zu übergeben, steht in meinem Mietvertrag“, schimpft der Mann. „Das gilt nicht“, antwortert Frau L. „Warum?“ „Das gilt eben nicht“, wiederholt sie. „Sie können gegen uns klagen. Wir haben solche Prozesse immer gewonnen.“ Der Rechtsanwalt, den der Mann konsultiert, ist über diese Frechheit entsetzt. Er nennt seine Preise. Dankend lehnt der Mieter die Hilfe ab.
Überall im Osten geschieht dasselbe. Jemand hat den Begriff „Notverwaltung“ erfunden. Der begrenzt diesen Zustand scheinbar auf eine bestimmte Zeit. Wir sind aber nicht in Not, sondern im ganz normalen Leben. Das dauert schon über fünf Jahre an und hat, nach der anfänglichen Zurückhaltung der Ostler nach der Wende, Leute wie Frau L. und Herrn P. hervorgebracht. Beziehungsweise wiederbelebt. Wir sind ihnen schon begegnet, als wir in der DDR eine Wohnung suchten. Wir regen uns über sie wieder genauso ergebnislos auf wie einst. Doch ihre Mängellisten unterschreiben wir. Und säßen wir an ihrer Stelle hinterm Schreibtisch, wären wir wie sie. Wir Ostler sind ideal geeignet dafür, uns selbst zu verwalten. Wir greifen schnell auf das Gelernte zurück. Nichts gehört uns, wir haben kein Interesse und deshalb auch keine Idee. Und weil wir ja auch keine Idee haben, sondern verwalten sollen, haben wir vorerst einen sicheren Arbeitsplatz.
Die um den Kugelschreiber gefalteten Hände der DDR-Verwalter ersetzt heute der Computer. Da Computer Arbeit abnehmen, versuchen die ostdeutschen Verwalter, in der freigewordenen Zeit wieder die gewohnten Dinger zu drehen: Wer Beziehungen hat, bekommt von ihnen eine Wohnung, wer keine ungesetzlichen Kompromisse eingeht, bekommt nie eine. Sie scheißen die Leute an, mit denen zusammen sie angeblich vom Westen angeschissen werden.
Wer im Osten nicht einmal etwas zu verwalten hat, wartet wieder auf den bestimmten Tag. Das ist der Tag, an dem wir endlich unter der Haube sind. Der Tag, an dem klar ist, wem unser Haus gehört, in wessen Händen unser Schicksal liegt.
Eines Abends klingelt in besagtem Haus der voraussichtliche Eigentümer an den Türen. „40 Jahre Mißwirtschaft werden bald ein Ende haben“, sagt er, „vor allem die Mißwirtschaft der letzten fünfeinhalb Jahre.“ Obwohl ihm noch nichts gehört, läßt er sich den zuständigen Mitarbeiter der Wohnungsbaugesellschaft kommen. Pünktlich morgens um sieben tanzt Herr P. an. „Das ist kein Gasherd, das ist ein Wrack. Wie können Sie so etwas verantworten?“ muß Herr P. sich vor den Augen der Mieter zusammenscheißen lassen. Die Geschichte von den Händen, die ihm durch den Eigentümer gebunden sind, kann er jetzt nicht erzählen. Deshalb besinnt er sich nun doch wieder darauf, wo er herkommt: „Der Beschaffenheitszustand der DDR-Gasherde ... “, setzt er umständlich zu einer Erklärung an. „Ich bestehe darauf ... Ich fordere ... Es muß ...“, sagt dagegen der Hausbesitzer. „Rufen Sie umgehend bei der Gasfirma an. Wahrscheinlich sind die Kollegen da viel beweglicher als Sie!“
So eine Szene meint wohl jene Frage, die als Frage nicht mehr zuzulassen ist. Wir Ostler lassen uns eben komplikationslos aufräumen, dirigieren und ordnen. Ach, hätten wir doch wenigstens diese Eigenart exportiert.
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