: Zum Hofgang geht es in den Käfig
Der Friedensprozeß für Nordirland ist im Gang. Doch im Umgang mit gefangenen IRA-Mitgliedern kennt die britische Regierung kein Erbarmen. Auch nicht mit Krebskranken ■ Aus Belfast Petra Schürenhöfer und Ralf Sotscheck
Der Fahrstuhl hält im zweiten Stock mit einem Ruck an. Rechts hinter einer Glastür führt ein Gang im rechten Winkel auf eine schwere, braune Holztür. In der Mitte ist in Kopfhöhe ein kleines Sichtfenster angebracht, das mit einer Holzklappe verschlossen ist. Bevor wir klopfen können, öffnet ein Polzeibeamter die Tür und läßt uns in einen winzigen Raum.
Hinter der Tür sitzt ein korpulenter Gefängniswärter in einem Sessel, die Füße auf einen Stuhl gelegt, und starrt auf drei Bildschirme hoch oben an der Wand. Auf einem läuft das nordirische Fernsehprogramm, auf den beiden Schwarzweiß-Monitoren ist der menschenleere Gang vor der Holztür zu sehen. Außer dem Wärter und dem Polizisten sind noch zwei weitere Beamte im Raum. Wir sind auf Krankenbesuch im City- Hospital von Belfast.
Patrick Kelly ist kein gewöhnlicher Patient. Er ist wegen Sprengstoffbesitzes zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Als er im November 1992 in London verhaftet wurde, hatte er gerade zwei Krebsoperationen hinter sich.
Der Polizist im City-Krankenhaus kontrolliert unsere Taschen und öffnet die Tür in der Ecke. Das zehn Quadratmeter große Krankenzimmer liegt im Halbdunkel. Kelly hat sich im Bett halb aufgerichtet. Er gibt uns die rechte Hand, obwohl ihm das sichtlich Schmerzen bereitet. Acht Tage zuvor ist er unter der rechten Schulter erneut an Krebs operiert worden. Die Wunde ist entzündet und wird mit 23 Klammern zusammengehalten. Der Arm ist stark geschwollen.
Kelly ist erstaunlich gut gelaunt. Er ist etwa Mitte dreißig, hat ein ansteckendes Lachen und spricht mit dem flachen Akzent der südirischen Midlands. Er stammt aus Portarlington, nur zehn Kilometer vom Gefängnis Portlaoise entfernt, wo die Republik Irland ihre IRA-Gefangenen einsperrt. „Ich habe hier im Krankenhaus jeden Tag mehr Besucher, als ich im englischen Knast pro Jahr hatte“, sagt Kelly. Er ist vor kurzem nach Nordirland verlegt worden.
Vor zwei Jahren hatte sich Kellys Zustand verschlechtert. Er hatte ständig Schmerzen, und an seinem Rücken bildete sich ein großer Knoten. Der Gefängnisarzt verschrieb ihm Schmerzmittel, ohne ihn gründlich zu untersuchen. Ein Jahr später wurde auf Drängen seiner Anwältin ein unabhängiger Arzt hinzugezogen. Er diagnostizierte Krebs. „Ich habe es die ganze Zeit gewußt“, sagt Kelly, „aber sie gaben mir immer nur Schmerztabletten.“ Die Gefängnisbehörde hat es auch gewußt: In Kellys Krankenakte befindet sich bereits im Juni 1994 ein entsprechender Vermerk. Operiert wurde er endlich im vorigen August im Krankenhaus Peterborough. Ursprünglich wollte man den chirurgischen Eingriff im Gefängnis vornehmen.
„Meine Krebsoperation hat den britischen Staat eine Viertelmillion Pfund gekostet“, erzählt Kelly. „Sie haben eine ganze Abteilung gemietet. Sechzig Polizisten waren im Einsatz, selbst unter den Treppen lagen sie mit ihren Maschinenpistolen. Über dem Krankenhaus kreiste ständig ein Hubschrauber.“ Er zieht das weiße Krankenhausnachthemd hoch und zeigt die Wunde: Kurz unterhalb des Halses hat Kelly im Nacken ein vernarbtes Loch so groß wie eine Zitrone.
Nach der Operation wurde er in seine alte Zelle ohne sanitäre Einrichtungen und ohne Heizung gebracht. Er nahm seinen „Dreckprotest“ wieder auf, den er nach seiner Verlegung ins Whitemoor- Gefängnis begonnen hatte: „Plötzlich haben sie von mir verlangt, eine Gefängnisuniform zu tragen und Gefängnisarbeit zu machen. Vor 15 Jahren sind zehn Hungerstreikende im Knast für das Recht gestorben, ihre eigene Kleidung tragen zu dürfen und keine Gefängnisarbeit leisten zu müssen.“ Warum ein „Dreckprotest“? „Es ist natürlich nicht sehr angenehm, seine Exkremente an die Wand zu schmieren und den Urin auf den Zellenboden zu schütten“, sagt Kelly, „aber welche Protestmöglichkeiten hat man schon, wenn man 23 Stunden am Tag eingesperrt ist?“
In seiner Zelle gab es lediglich eine Matratze auf dem Fußboden sowie einen Stuhl und einen Nachttisch aus Preßpappe. „Zum Hofgang durfte ich in eine Art Käfig, der oben mit Wellblech verschlossen war“, sagt Kelly. „Ich habe drei Jahre lang kein Sonnenlicht gesehen.“ Haben sich die Haftbedingungen nach dem Waffenstillstand der IRA im Herbst 1994 verändert? „Aber ja“, sagt Kelly, „sie haben sich drastisch verschlechtert. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden verschärft, wir durften nur noch nachts telefonieren, und die Benutzung der Dusche hing von der Laune der Wärter ab“, sagt er. „Manchmal entfiel auch der Hofgang, Radio und Zeitungen gab es auch nicht mehr.“ Kelly nimmt an, daß das britische Innenministerium den Eindruck vermeiden wollte, man mache der IRA Zugeständnisse.
Im City Hospital ist Arztvisite. Der Doktor bittet uns, eine Weile vor der Tür zu warten. Nach zehn Minuten dürfen wir wieder hinein. Patrick Kellys Stimmung ist umgeschlagen, er wirkt bedrückt, niedergeschlagen. „Der Arzt hat mir mitgeteilt, daß ich jetzt auch auf beiden Lungen Flecken habe“, sagt er. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch leben werde. Meine Tochter Sarah wird im März drei. Ich war schon ein halbes Jahr im Knast, als sie geboren wurde, ich habe sie nur viermal gesehen. Ich möchte sie noch ein wenig kennenlernen. Sie soll sich später wenigstens daran erinnern, daß sie mal einen Vater gehabt hat.“
Von den rund 380 irischen politischen Gefangenen sitzen 24 in englischen Haftanstalten. Die Hoffnung auf Hafterleichterungen nach dem IRA-Waffenstillstand sind inzwischen verflogen. Seit vergangenem Sommer finden Besuche unter „geschlossenen Bedingungen“ statt: „Ich konnte Derek erst sechs Monate nach seiner Verhaftung zum ersten Mal besuchen“, sagt Margaret Doherty, deren Sohn Derek zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde und in Full Sutton sitzt. „Nach einer gründlichen Durchsuchung wurden wir in einen winzigen Raum gebracht, der durch eine Glaswand unterteilt war. Derek saß auf der einen Seite, wir auf der anderen. Wir konnten ihn nicht berühren, nicht umarmen, ihm nicht mal die Hand geben. Hinter uns und hinter Derek standen Wärter, die jedes Wort mithören konnten. Wir hatten die weite Reise auf uns genommen, um anderthalb Stunden durch eine Glaswand über das Wetter zu reden.“ Manchmal passiert es, daß ein Gefangener in ein anderes Gefängnis verlegt wird, ohne daß man die Familie darüber informiert. Steht sie am Besuchstag dann vor der Tür, schickt man sie womöglich quer durch England zu einem anderes Gefängnis, wo die Besuchserlaubnis nicht unbedingt anerkannt werden muß. Für die Familien wäre deshalb eine Verlegung der Gefangenen in ein Gefängnis in der Nähe des Heimatortes, wie es die europäischen Gefängnisrichtlinien vorschreiben, eine große Erleichterung.
Martina Anderson und Ella O'Dwyer sind vor kurzem aus England in den Frauenflügel von Maghaberry verlegt worden. Das Gefängnis ist vor etwa zehn Jahren eröffnet worden, es liegt südlich von Belfast, keine zehn Kilometer vom berüchtigten Gefangenenlager Long Kesh entfernt. Es fährt kein Bus nach Maghaberry, wir müssen ein Taxi nehmen. Hinter dem großen Eingangstor führt ein Gittergang in einen Warteraum, von dem zwei Türen abgehen: eine für Besucher, die andere für Besucherinnen. In dem Raum dahinter muß man alles abgeben, was man bei sich hat. Lediglich das Geld erhält man sofort zurück – in einem versiegelten Umschlag, den man erst nach dem Verlassen des Gefängnisses öffnen darf.
Ein Gefängnistransporter mit Holzbänken und undurchsichtigen Scheiben bringt uns zum Eingang des Frauengebäudes. Nach einem halben Dutzend Stahltüren, die sich elektronisch öffnen, stehen wir im Besuchsraum, der ein wenig an einen Schnellimbiß erinnert: Rechts und links befinden sich durch Spanplatten getrennte Abteile mit jeweils zwei Bänken und einem Tisch. Martina Anderson, 33, und Ella O'Dwyer, 36, sind elegant gekleidet und dezent geschminkt. Beide sind sehr attraktiv, Martina Anderson war früher Schönheitskönigin von Derry, ihrer Heimatstadt. Sie haben Tee und Kekse aus ihren Zellen mitgebracht.
Die beiden Frauen wurden 1985 wegen ihrer Verwicklung in die Bombenanschlagsserie der IRA in England zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. „Am schlimmsten an den englischen Gefängnissen waren die Durchsuchungen“, sagt Anderson, „wir mußten uns manchmal sechsmal am Tag nackt ausziehen, während sechs oder sieben Wärterinnen im Kreis um uns herumstanden. Es war demütigend.“ Wegen dieser „Strip Searches“ ist ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.
„Es war ein ständiger Kampf gegen die Gefängnisbehörde“, sagt Anderson. „Wir haben uns geweigert, Schilder für die Nato-Uniformen zu nähen. Zur Strafe kamen wir in Einzelhaft und mußten 23 Stunden in der Zelle bleiben. Das ging vier Jahre so. Die Zellen waren so winzig, daß man beide Wände berühren konnte, wenn man die Arme ausstreckte.“ Tagsüber wurde die Zelle völlig leergeräumt, abends warf man ihnen eine Matratze hinein. „Morgens mußten alle Gefangenen die Nachttöpfe am Ende des Ganges in ein Becken ausleeren. Aber im Winter, wenn die Rohre gefroren waren, lief das Zeug im Erdgeschoß in den Eßraum. Die Frauen mußten es dann aufwischen. Dafür bekamen sie einen Schokoriegel.“
Aufgrund der miserablen Bedingungen hatten viele weibliche Gefangene Probleme mit der Menstruation. „Dafür hatte der Arzt ein Patentrezept: die Gebärmutterentfernung“, sagt O'Dwyer. „Wir nannten ihn Doktor Tod. Offiziell war er Feldwebel, war wohl in irgendeinem britischen Krieg als Stabsarzt dabeigewesen.“
Als der Gefängnisdirektor 1990 ausgewechselt wurde, besserte sich die Situation etwas. Martina Anderson nahm ein Studium der Sozialwissenschaften auf, im nächsten Jahr macht sie ihre Abschlußprüfung. Ella O'Dwyer hat vor kurzem in englischer Literatur promoviert. In ihrer Doktorarbeit ging es um die Rolle der Leserin im Kolonialismus. Auch wenn die Haftbedingungen in den letzten Jahren etwas besser wurden, wollen die beiden auf keinen Fall zurück nach England. „Die Wärterinnen haben stets versucht, einen Keil zwischen uns und die anderen Frauen zu treiben“, sagt O'Dwyer. „Nach jedem IRA-Anschlag haben sie es erneut probiert, wenn auch letztendlich erfolglos. Offiziell sitzen wir noch immer in England ein, unsere Akten sind noch drüben. Wir müssen alle halbe Jahre einen Antrag stellen, damit wir in Maghaberry bleiben können. Dieses Druckmittel lassen sie sich nicht nehmen.“
Und der Friedensprozeß? „Wir sind ein Produkt des Konflikts“, sagt Anderson, „ohne den Krieg wären wir nicht im Knast. Die politischen Gefangenen sind zwar nicht das zentrale Thema, aber wir müssen Teil einer Lösung in Nordirland sein, sonst wird es keinen dauerhaften Frieden geben.“
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