■ In Deutschland wird die Ausländerfrage verwaltet. In Lübeck geht es um einen Bruch mit dieser Mentalität: Ethisch und pragmatisch
Bezweifelt ernsthaft jemand, daß Ausländer auch delinquent werden können? Wer würde die Verantwortung von kurdischen Emigranten am Drogenhandel im Hamburger Stadtteil St. Pauli bestreiten, wer die Verstrickung von Vietnamesen in den Handel mit zollfreien Zigaretten? Ja, richtig, Frauen aus Rumänien, die in den Fußgängerzonen ihre Kinder die Ziehharmonika spielen lassen, um somit ein paar Pfennig zu erbetteln, nerven – mitleidheischende Gesten sind uns peinlich; türkische Männer pfeifen gerne blonden Frolleins hinterher – das tut man auch nicht; Ghanaer und Sambier spielen die Könige in den hiesigen Diskotheken und sind überhaupt nicht lieb, wenn es ums Anbaggern für die Nacht danach geht – und das ist nun ganz und gar blamabel.
Doch was heißt das schon? Überhaupt läßt sich in diesem Zusammenhang sagen, daß sämtliche Vorurteilsmuster, die je in Deutschland gestrickt und gehäkelt wurden, irgendwie auch einen wahren Kern enthielten und nach wie vor enthalten: Juden verstehen sich aufs Geld, Latinos auf die schräge Nummer und Araber auf die extreme Machonummer. Was das alles mit Lübeck und dem Brandanschlag zu tun hat? Nichts.
Die Kritik, daß die mediale Wühlarbeit in einem kollektiven Anfall von Schuldbewußtsein, gepaart mit Selbstbezichtigungen („Wir Deutsche mal wieder“), nur dazu geführt habe, einmal mehr die analytische Feinarbeit zu vernachlässigen, ist wohlfeil: Sie trifft immer – und damit niemals.
Keiner hat ernsthaft nach den ersten kriminalistischen Ergebnissen – schon wenige Stunden nach dem Feuer – die These aufrechterhalten, daß ein Anschlag von Neonazis für die zehn Toten verantwortlich zu machen ist. Doch war das (auch journalistische) Alltagsbewußtsein so gänzlich an den Haaren herbeigezogen, so völlig aus dem Arsenal sturzbetroffener Paranoiker gezogen? Hatte die Erwägung dieser Möglichkeit etwa nicht gute beziehungsweise schlechte Gründe? Brannte in der Stadt Thomas Manns vor wenigen Jahren etwa keine Synagoge? Wurde die Beweislage, daß dafür Jugendliche aus einem Lübecker Armenviertel verantwortlich zu machen sind, von den Gerichten nur erfunden? War die Stadt nicht in der Tat berüchtigt für ihren Geist, der, wie Bürgermeister Michael Bouteiller sagt, „sich nur rückwärts wendet“, auf die glorreichen Tage der Hanse schaut und sich keinen Deut um die wirkliche Welt schert? Zeit-Chefredakteur Robert Leicht nimmt dieses Dilemma auf, wenn er nachträglich schreibt: „Manchmal ist irren wirklich menschlicher.“
Es waren nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse keine Neonazis, keine Skins und auch sonst keine bösen Deutsche, die das Haus an der Neuen Hafenstraße 52 angesteckt haben. Doch es hätte niemanden gewundert, wenn es so gewesen wäre.
Hand-Ludwig Zachert, Chef des Bundeskriminalamtes, wird wissen, wovon er spricht, wenn er nach Lübeck sagt: „Die Militanz der Rechtsextremen ist entsetzlich.“ Was er nicht mitteilt, ist: Die Kriminalität gegen Ausländer – und die überwiegende Zahl der Brände in Asylbewerberheimen geht schließlich auf das Konto von Ausländerfeinden – wird vor allem aus der deutschen Mitte heraus geschürt, aus dem Milieu der Kanther und Gerster. Wer im Zusammenhang mit Asylbewerbern immer nur vom Mißbrauch des Asylrechts spricht, und, entscheidender, wer in seiner Rede nur kollektive Subjekte kennt, macht die, um die es geht und die es betrifft, zu Objekten: Es bleiben immer Ausländer, nie sind es Türken, Kurden, Aserbaidschaner, Pakistani, Guatemalteken, Rumänen. Es mag protestantische Ethik sein, der Geist der katholischen Soziallehre oder die Spiritualität des multikulturellen Weltgewissens: Solange Menschen aus anderen Nationen in Deutschland nur Ausländer sind, wird es kaum möglich sein, über ihren Alltag zu berichten oder das zu erörtern, was der polnische Soziologe Zygmunt Bauman als „Ambivalenzen“ beschrieb.
In Lübeck war in den Tagen nach dem Brand etwas Neues zu beobachten: Da reagiert ein Bürgermeister nicht beruhigt – und integrativ –, als die Ermittlungsbehörden endgültig die Tataufklärung an sich genommen haben. „Eine Stadt sucht nach Wahrheit“, titelten die Lübecker Nachrichten–, und Bouteiller protestierte scharf, indem er sagte, die Polizei habe die Hintergründe des Brandes zu recherchieren, die Stadt hingegen sich um die Opfer zu kümmern.
Denn Opfer – gibt es da etwa eine Differenz? – sind die Überlebenden allemal: Alles, was sie sich während der Asylverfahren zusammengespart, erarbeitet oder ersammelt haben, war verbrannt. Bouteiller ist der erste Vorsteher einer deutschen Großstadt, der sich von Ideologien nicht anknabbern läßt und nichts anderes signalisierte als – Verantwortung.
Man mag dies kitschig und unangemessen finden in diesen Zeiten, wo jeder selbst humanitären Zwecken zugedachte Pfennig Argwohn bei allen Sparkommissaren in der Republik erregt. Man kann finden, daß Bouteiller nicht mehr ganz bei Trost ist, zivilen Ungehorsam zu fordern, wenn der Staat – und damit auch er – jetzt kaltherzig die Abschiebung der Brandopfer in die Wege leitet. Bouteiller darf mithin als Pragmatiker mit ethischem Fundament bezeichnet werden. Und wenn er nicht so überzeugt wäre von dem, was er da von seiner Stadt einfordert, hätte er längst einen Bückling vor den rechtspopulistischen Sittenwächtern der Republik gemacht. Was der Bürgermeister artikulierte, war in diesem Sinne eines demokratischen Rechtsstaates würdig: Er hat Fremden ein Willkommen signalisisert, ohne so zu tun, als sei er wie sie.
Um diesen anderen Stil in der gesellschaftlichen Debatte der Ausländerfrage, um diesen, ja, Bruch mit der Mentalität von Verwaltung und Administratoren ging es in Lübeck. Um nichts anderes. Ansonsten war es ein Brand wie viele andere auch. Tragisch für die Opfer und bedrückend für die Hinterbliebenen.
Noch liegen die Dinge jedoch anders, die Verhältnisse, die sind nicht so, wie wir sie gerne hätten. Es wäre ein Fortschritt, so brutal das klingt, wenn eines Tages die Meldung, daß es in Lübeck gebrannt hat und dabei fünf Menschen umgekommen sind, nur eine lokale Notiz wert wäre. Ungemeldet bliebe, wenn es sich um normale Wohnverhältnisse gehandelt hätte, daß es sich bei den Opfern um eine fünfköpfige Familie tansanischer Herkunft gehandelt hat. Bis dahin ist die Ausländerfrage vor allem eine zutiefst deutsche Angelegenheit. Jan Feddersen
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