: „Du Arschloch“, schnauzt Libby
■ Ein erstaunlich authentischer Roman nicht nachprüfbarer Genauigkeit über Clintons Wahl 1992 beschäftigt Washington
Washington (taz) – Das hätte er sich nicht träumen lassen, als er im Januar 1993 seinen Amtseid ablegte. Er ist der erste US-Präsident, dessen Staatsapparat drei Wochen stilliegt, dessen Administration seit Monaten ohne Gesamthaushalt regiert, dessen Frau vor einem Geschworenengericht aussagen muß – und dessen Liebes- und Wahlkampfleben noch in seiner Amtszeit zum Gegenstand eines Romanes wird. Inzwischen ist er gar selbst als Zeuge in einem Prozeß geladen worden (gegen zwei ehemalige Geschäftspartner in der „Whitewater“-Affäre). Das wiederum ist schon einigen seiner Vorgänger passiert, darunter Thomas Jefferson und Richard Nixon. Bill Clinton ist trotzdem guter Dinge: Seine Aussichten auf Wiederwahl stehen dieser Tage gut. Das allerdings galt vor genau vier Jahren auch für George Bush. Außerdem ist er endlich wieder in seinem Element – dem Wahlkampf.
Der gestaltet sich dieses Mal hoffentlich weniger nervenzerreißend als Clintons Kampagne 1992, die inzwischen in mehreren Büchern und einem Film („The War Room“), dokumentiert ist. Nun allerdings hat sich jemand erlaubt, darüber einen Roman („Primary Colors“) zu schreiben. Die Hauptfiguren: Jack und Susan Stanton, ein Gouverneursehepaar aus dem amerikanischen Süden, das ins Weiße Haus einziehen will. Der Erzähler: Henry Burton, Wahlkampfberater, Seelenmasseur und Pressemanipulator auf der Suche nach Idealismus in der Politik.
Was den Roman derzeit zum Stadtgespräch macht, sind weniger seine gelungenen Dialoge und die realistische Darstellung einer unbarmherzigen Wahlkampfmaschinerie. Es ist die Anonymität des Autors und der Umstand, daß Situationen und Personen höchst authentisch sind.
Seitdem brodelt die Gerüchteküche, um die Identität des Verfasser herauszufiltern. Ein Journalist aus dem Pressetroß während des Wahlkampfes 1992? Die Verdächtigten schütteln geschmeichelt, aber bedauernd den Kopf. Sie wären es ja gern. Ein literarisch begabter, aber von den Clintons enttäuschter Berater? Die Verdächtigten verneinen – und lesen begierig weiter. „Ich hab's nicht geschrieben“, beteuerte Clinton-Berater George Stephanopoulos unlängst bei einem Journalistengespräch gequält. Das wird auch gut sein, denn der fiktive Henry Burton ist eindeutig dem realen Stephanopoulos nachempfunden, und er hat im Buch eine Affäre mit der Gattin des Kandidaten.
Der Kandidat wiederum balanciert verbissen zwischen Aufstieg ins Machtzentrum und Absturz in die politische Bedeutungslosigkeit. Wer bei Minusgraden in trostlosen Industrierevieren oder Junk-food- Restaurants den ganzen Tag Hände von Menschen schüttelt, die einen nicht kennen, muß wohl wirklich Präsident werden wollen. Aufgrund der Beschaffenheit des US-Vorwahlkampfes hält das fast ein Jahr lang an, was für alle Beteiligten nicht nur permanenten Schlafentzug, sondern auch eine gewisse Verrohung des Sprachgebrauchs zur Folge hat. „Fuck“ ist eindeutig das gebräuchlichste Wort in diesem Buch. Des Kandidaten sexuelle Eskapaden sind ein zentrales Thema, nachdem eine Minderjährige schwanger wird und eine gewisse Cashmere McLeod (alias Gennifer Flowers) Tonbänder von Privatgesprächen mit dem Gouverneur in den Wahlkampf einbringt. „Du Arschloch“, schnauzt die superloyale Stanton- Beraterin und Krisenmanagerin Libby ihren Kandidaten an. „Wir hätten dich kastrieren sollen, als es die Gelegenheit noch gab.“
Am Ende wird nicht alles gut, sondern nimmt einfach seinen Gang. Stanton wird gewinnen – und vielleicht eine bessere Politik machen als seine Konkurrenten. Man klappt das Buch zu – und ist ernüchtert, nach einer ziemlich trostlosen Reise durch die amerikanische Politik.
Schadet dies Bill Clinton? Er ist zu Leb- und Amtszeiten zur Romanfigur geworden. Das soll ihm mal einer nachmachen. Andrea Böhm
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