: Moische Hitlerjunge
Jüdischer Vater, „arische“ Mutter: Ein Leben zwischen den Stühlen. Sigmar Schollaks „Kallosch“ ■ Von Peter Walther
Wer 1930 in Berlin zur Welt kommt und drei Jahre später zum „Halbjuden“ gemacht wird, das Dritte Reich überlebt und sieben Jahre vor der allgemeinen Auflösung im Osten den Sprung in den Westen wagt, hat keinen Grund mehr, mit dem Rückenwind des Zeitgeistes zu rechnen. Sigmar Schollack, Autor des gerade erschienen Romans „Kallosch. Roman einer Autobiographie“, teilt dieses Schicksal mit seinem Schriftstellerhelden Gernot Kallosch.
„Nachtigall, ick hör' dir trapsen!“ mögen aufmerksame Leser denken. Haben wir es einmal mehr mit einem Fall von schriftstellerischem Narzißmus zu tun, bei dem uns das nur spärlich als Palindrom (Kallosch) getarnte Ich des Autors mit einer Selbstauskunft zu Leibe rückt?
Schollak hat sich keineswegs die Mühen seines Lebensweges von der Seele geschrieben, er hat vielmehr den Roman seines Lebens erzählt: „Kallosch ist nicht ich. Vor dem Korridorspiegel ist es mir aufgegangen: Der da ist es! Seitenverkehrt stand er vor mir. Ich entzifferte Kal-losch. Aha, sagte ich. Aja, aha.“ „Kallosch“ ist die Chronik unfreiwilliger Verwicklung in die Zeitläufte, die Geschichte einer verweigerten Normalität. Eine der frühesten Erinnerungen des Kindes reicht in den November 1938 zurück: „Er soll sich anziehen, sofort, mit Betty gehen, sofort. Herberts Lederwarengeschäft ist von Sturmtrupplern verwüstet, und nun soll Kallosch sich aussuchen, was er brauchen könnte.“ Ein Jahr später wird das Kind eines jüdischen Vaters und einer „arischen“ Mutter getauft. Es nützt nichts, der Raum außerhalb der Wohnung in der Christburger Straße in Prenzlauer Berg bleibt Feindesland, wo Pöbeleien drohen, Prügel, Verachtung und, für die väterliche Hälfte der Verwandtschaft, die planvolle Vernichtung.
Ein Leben in der Defensive, Entschuldigung als Dauerzustand. „Halbjude“ ist er bei den einen, „Moische Hitlerjunge“ bei den anderen. Später, als das Dritte Reich in Trümmern lag und sich im alten Zentrum schon bald die neuen Pole der Identifikation herausbildeten, saß Kallosch wieder zwischen allen Stühlen.
Zum Studium wird er nicht zugelassen, weil der Vater als „republikflüchtig“ registriert ist. Dann die Jahrzehnte der Schriftstellerei in der DDR, das Auskommenmüssen mit Leuten wie Klaus, schließlich die Übersiedlung in den Westteil der Stadt, die Schwierigkeiten, Fuß zu fassen, die Entfremdung von seiner Frau.
Schollak präsentiert die äußeren Daten der Biographie in einer Textcollage, in der verschiedene Zeitebenen und Erzählperspektive oft unvermittelt nebeneinanderstehen. Was zu sagen ist, wird von Kallosch selbst erzählt oder von einem, der mal als siamesischer Zwilling, mal als Freund oder als Spiegelbild des Helden auftritt.
Das Buch erweist sich als sperrige Lektüre. Es lohnt sich jedoch, der inneren Logik im Wechsel von Zeit und Perspektive wie auch dem Spiel mit den verschiedenen Formen der Selbstbefragung nachzuspüren. Schollaks Erzählen folgt den Gesetzen der Erinnerung. Er ordnet seine Bilder nicht auf dem Zeitstrang an, sondern arbeitet assoziativ. Oft verschwimmen die Grenzen zwischen vergangener Realität und Tagtraum.
So besinnt sich Kallosch auf den Bruder seiner Mutter, den SS- Mann, und auf Leo, den Onkel aus dem jüdischen Teil der Verwandtschaft: „Warum immer denken, was denkbar ist? Etwa das: Nach Schulschluß steht der Onkel auf der Straße und drückt Kallosch ein Geschenk in die Hand. Guck mal Jungchen, was ich so mache. – Warum Knöchchen denken, Menschenknöchchen? (...) Ich zerknülle das Blatt, ausweglos wütend. Ich werfe es in den Papierkorb. Ich hole es vor. Ich schreibe: Vor der Schulpforte Onkel Kurt. Onkel Kurt ist da. In Papier gut verpackt, hat er ein Geschenk mitgebracht. Damit du siehst, was ich mache. Jungenhaft strahlt er, und ich entfalte das Papier mit Leos Knochen.“ Die prägenden Erlebnisse des Kindes, das als Paria in der Nazigesellschaft aufwuchs, schärfen den Blick des Erwachsenen für die fortgesetzte Ungerechtigkeit: „... als der Vater klammheimlich den russischen Sektor verlassen mußte und Kallosch plötzlich der Sohn war eines Klassenfeindes. Die Tochter Enkelin eines Klassenfeindes, später Tochter eines die Republik schmählich verlassenden Vaters. Und das, all das war mit Aktenstrichen versehen, die zu Zeichen wurden für Entwicklungswege, zu Stoppzeichen.“
1989 schließt sich der Kreis der Geschichte. Der Held erlebt den Fall der Mauer als mittlerweile leidlich arrivierter Drehbuchschreiber, der die Geschichte seiner Familie zum Gegenstand eines Films gemacht hat. Auf einmal brechen die für sicher gehaltenen Grenzen der Wohlstandsinsel, und Bürger des ungeliebten Staates überfluten zehntausendfach die Weststadt, verstopfen Rolltreppen, Supermärkte, S- und U-Bahnen.
In Kalloschs neuem Milieu, der Halbwelt, die sich in den Lokalen abseits des Ku'damms versammelt, werden schon Tips ausgetauscht, wie man den Ostlern am besten aus dem Weg geht. Im KaDeWe sei noch Luft, vor den hohen Preisen würden die Invasoren vorerst zurückschrecken. Kallosch hat persönliche Gründe, Abstand zu halten. Mancher von denen, die sich in Verbrüderung ergehen, fühlte sich schon früher als Sieger der Geschichte. Er trifft sich mit Karl, dem alten Freund, den er seit der Nachkriegszeit kennt und der im Osten geblieben war: „Ansichten, Sichten waren auseinandergedriftet (...). Man stritt sich herum. Haarrisse von einst wurden zu Schluchten von jetzt, über die hinweg man sich ein Ja-verstehst-du- denn-nicht? zurief. Laut, böse, vergeblich.“ Karl, stellt sich heraus, „war dabeigewesen“, hat über Jahrzehnte alles der „Firma“ zugetragen. Unser Held blickt nicht ohne Bitterkeit auf die Entwicklung nach 1989. Klaus, der Literaturmächtige von einst, sitzt im wirklichen Leben für die PDS im thüringischen Landtag und klopft Sprüche. Über die verbogenen Lebensläufe, die Stoppzeichen in den Akten, wird kaum noch gesprochen. Kallosch hat abgeschlossen mit dem Osten, dem „Friedhof seiner Hoffnungen“.
Er brüht sich einen Tee und rauft sich zusammen: „Leben ist ja überhaupt ein Versuch. Der, sage ich, letzte Versuch.“
Sigmar Schollak: „Kallosch. Roman einer Autobiografie“. Weidler Verlag, Berlin 1995, 34 DM
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