piwik no script img

In der Erinnerung wühlen

Beklemmende Oral history: Das Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum archiviert Video-Interviews mit Überlebenden des Holocaust  ■ Von Kolja Mensing

Einen Tag vor ihrem achtzehnten Geburtstag, am 10. März 1943, kam Gisela Mießner aus der Schule, und ihr Vater war wieder zu Hause. Zwei Wochen vorher, am 27. Februar, war er wie viele andere Berliner Juden verhaftet und in das Haus der Jüdischen Sozialverwaltung in der Rosenstraße 2-4 gebracht worden. Der Vater von Gisela Mießner war, wie die anderen Inhaftierten, mit einer nichtjüdischen Ehefrau verheiratet: „Mischehe“ hieß das in der Nazi- Gesetzgebung. Die Juden sollten nach Auschwitz gebracht werden. Der Protest ihrer Ehefrauen und Töchter in der Rosenstraße hat sie gerettet.

Mehr als fünfzig Jahre später sitzt Gisela Mießner in einem Sessel, im Hintergrund eine häßliche blaue Gardine, und berichtet zwei Interviewern vom Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) der Universität Potsdam von den Tagen in der Rosenstraße, von ihrem Leben als „Halbjüdin“ im Dritten Reich. Das Gespräch wird auf Video aufgezeichnet.

In zwei Interviews, die jeweils fast vier Stunden dauern, erzählt Gisela Mießner ihre ganze Biographie. Die Bänder von ihr und vorerst 32 anderen Überlebenden des Holocausts sind nun im Haus der Wannseekonferenz archiviert und der Öffentlichkeit zugänglich. Bis zum Ende des Jahres sollen es etwa 100 Interviews werden, die dort von Wissenschaftlern, Studenten, Schülern und anderen Interessierten angesehen werden können. Der Holocaust als Videothek.

Die Potsdamer stehen nicht ohne Konkurrenz da: Im letzten Jahr gründete Steven Spielberg eine Stiftung, die sich die flächendeckende Dokumentation der Überlebenden des Holocaust zum Ziel gesetzt hat. Bis zu 150.000 jeweils zweistündige Videobänder sollen Spielbergs Mitarbeiter bis zum Ende des Jahrtausends erstellen. Spielbergs Projekt machte einige Furore, vor allem weil er die Aufbereitung der Interviews in Form von interaktiven CD-ROMs ins Auge faßt.

Auf einer Pressekonferenz Anfang der Woche stellte das MMZ für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam ihr Projekt vor, das sich wesentlich von dem Vorhaben der Spielberg-Stiftung unterscheidet: wissenschaftlicher Anspruch und intensive, zeitlich nicht begrenzte Interviews einzelner statt auf Vollständigkeit abzielender Dokumentation. Ein Unterschied natürlich auch im Etat: Rechnet der Erfolgsregisseur mit dreistelligen Millionenbeträgen, müssen die Potsdamer Forscher mit gerade mal 550.000 Mark auskommen, die die Volkswagen- Stiftung zur Verfügung stellt.

„Oral history“ lautet das methodische Stichwort – die Ergänzung schriftlicher Quellen durch den mündlichen Bericht über den Alltag. Mit einem subjektiven Blick will diese Herangehensweise Strukturen herkömmlicher Geschichtsschreibung aufbrechen und den Alltag zum Thema der Historiographie machen. Das Videoprojekt des MMZ steht vor der Aufgabe, Berichte über die Zeit des Nationalsozialismus zu sammeln, bevor die letzten Zeugen sterben. Um erzählte Geschichte zu dokumentieren sind Videoaufzeichnungen der geeignete Weg: Fernsehbilder gelten als authentisch und direkt. Darüber hinaus hat sich die Projektgruppe des MMZ an das Prinzip gehalten, die Gespräche ungeschnitten zu archivieren.

Die Beteiligten müssen sich allerdings mit einer scheinbar paradoxen Mischung auseinandersetzen: Auf der einen Seite die sehr intensive Beziehung, die zwischen Interviewern und Interviewten aufgebaut wird. Auf der anderen Seite das unpersönliche Medium Video, das die Gesprächssituation für jeden beliebigen Betrachter bereitwillig reproduziert. Viele der Interviewten haben sich die Entscheidung nicht leichtgemacht. Auch Gisela Mießner hatte gezögert: „Ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich das Gespräch führen wollte. Doch für mich war es ausschlaggebend, daß meine Geschichte und vor allem die Geschichte meiner Eltern für andere Menschen aufbewahrt wird.“

Die Intensität des Gesprächs vor der laufenden Kamera stellt sich für Gisela Mießner als kaum wiederholbar dar: „Ich habe in diesen sechs Stunden über Dinge geredet, die ich im Gespräch mit Bekannten oder Journalisten nicht erwähnen würde – zum Beispiel darüber, wie mein Vater, der 1943 noch einmal gerettet worden war, gegen Kriegsende durch die nationalsozialistische Verfolgung umgekommen ist. Trotzdem stört es mich nicht, daß fremde Menschen sich meine Erzählung im Videoarchiv anschauen.“ Allerdings weiß sie noch nicht, ob sie sich das Band noch einmal anschauen würde.

Die Interviews des MMZ sind lebensgeschichtlich angelegt. Die Juden und Jüdinnen erzählen nicht nur von der Verfolgung, sondern berichten über die Zeit von der Kindheit bis zur Gegenwart. Damit versuchen die Wissenschaftler, die Erfahrungen im Dritten Reich als Bruch in den Biographien der Interviewten zu erfassen – Psychologen, Biographieforscher und Geschichtswissenschaftler arbeiten hier zusammen. Auch wie in der BRD und der DDR unterschiedlich mit der Verfolgung umgegangen wurde, möchten die Forscher im Anschluß an die Dokumentationsphase untersuchen.

Sich eine ganze Biographie erzählen zu lassen, sich über die schlimmsten Erfahrungen in einem Leben berichten zu lassen – auch für die Interviewer eine angespannte und emotional belastende Situation. Veronika Lippert, Geschichtsstudentin in Potsdam, ist mit ihren 22 Jahren die jüngste Interviewerin im Team des MMZ: „Für mich waren die Gespräche Anlaß, sehr viel über mich selbst nachzudenken. Vor allem natürlich über mein eigenes Verhältnis zur Nazi-Vergangenheit – warum ich zum Beispiel nie mit meinen Großeltern über diese Zeit reden konnte. Aber es gab auch weiter gefaßte Denkanstöße, die mit dem Holocaust selbst nichts zu tun haben. Man bekommt einen anderen Blick auf das eigene Leben.“

Gisela Mießner berichtet von einem ähnlichen, wenn auch vermutlich intensiveren Effekt auf der Seite der Interviewten: „Die ganze Woche nach dem Gespräch hatte ich ein sehr beklommenes Gefühl. Plötzlich war ich gezwungen, mich noch einmal mit meiner ganzen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen, noch einmal tief in meiner eigenen Erinnerung zu wühlen. Nach einer gewissen Zeit empfand ich die Auseinandersetzung jedoch als sehr befreiend.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen