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Nach der Mathematik auf das Hochseil

Sie sind noch Kinder und doch bereits in der Berufsausbildung: An der Schule für Artistik und Ballett beginnt bereits im Alter von zehn Jahren der Weg in die Manege oder auf die Opernbühne  ■ Von Michaela Eck

Die vierzehnjährige Peggy schaukelt am Trapez: Unvermittelt läßt sie sich nach hinten fallen, hängt kopfabwärts mit den Knien in der Schaukel. Locker nimmt sie Schwung und kommt mit einem Salto zum Stehen.

„Peggy und das Trapez – das sind ein Herz und eine Seele“, spöttelt ihre Freundin Martina. Der Akrobatik in der Luft kann sie nicht soviel abgewinnen. Martina turnt lieber am Boden. Zur Demonstration ihres Lieblingsfaches macht sie mal kurz einen Handstand. Jedoch nicht einfach auf dem Fußboden. Nein – sie stützt sich hierzu auf zwei Stahlrohre.

Peggy, Martina, Daniel, Max und Jessika haben im August vergangenen Jahres an der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik in der Erich-Weinert- Straße 103 im Bezirk Prenzlauer Berg mit ihrer Ausbildung begonnen. Schulisch gesehen sind sie zwar alle schon in der neunten Klasse, als Artisten aber sind sie noch „Grünschnäbel“.

Zur Zeit absolvieren sie ihre einjährige „Grundausbildung“ in Arkrobatik, Jonglieren, Äquilibristik, Trapez und Drahtseil. Nach einem Jahr haben sie genug Kraft, Körpergefühl und artistische Erfahrung, um sich auf ein Fach spezialisieren zu können.

Im Gegensatz zu den Ballettschülern beginnen die Artistenschüler im Alter von 14 bis 15 Jahren in der neunten Klasse ihre Ausbildung. Denn erst in diesem Alter habe der Körper des Jugendlichen eine ausgereifte Stabilität, erklärt der Schulleiter Hans-Wolfgang Kendzia.

Die Tänzer und Tänzerinnen aber beginnen schon mit 10 Jahren in der fünften Grundschulklasse. Das sei in der Tat eine sehr frühe Lebensentscheidung, gibt Hans- Wolfgang Kendzia zu. Doch nichts sei endgültig – und die Kinder könnten im Falle von Verletzungen oder Umorientierungen jederzeit und ohne eine Klassenstufe zu wiederholen, an eine andere Schule wechseln.

Im Prinzip könnten all diejenigen, die Interesse haben, sich an der Schule bewerben, betont Kendzia. Eine kleine Hürde gibt es allerdings zu bewältigen: Denn ohne Eignungstest und medizinische Prüfung gibt es für eine Aufnahme kein grünes Licht.

Jessika versucht aus dem Stand einen Flicflac zu springen. Sie spannt die Muskeln, holt Luft. „Aktion!“ kommandiert Lehrer Heinz Wiehler. Jessika wirbelt durch die Luft, der Rest der Klasse klatscht. Doch Wiehler ist nicht zufrieden.

Artistisch gesehen ist er ein alter Hase. 27 Jahre hat er als Schleuderbrett-Artist auf vielen Bühnen und Manegen der Welt gearbeitet. Ihm entgeht so leicht kein Fehler. Fehler dürfe man sich in diesem Beruf auch keine leisten, betont er immer wieder. Denn Fehler könnten tödlich sein.

Manchmal bereite ihm die Verantwortung, die er für die Kinder habe, auch schlaflose Nächte, gesteht er. Doch seine langjährige Erfahrung gibt ihm die Sicherheit, Gefahren im Vorfeld zu erkennen. „Schieb die Knie nicht soweit nach vorne, sonst kommst du nicht richtig rum! Nimm den Kopf mehr zurück! Und das Ganze noch einmal!“ treibt er Jessika weiter an.

Erschöpft reibt sie sich den von den Übungen schmerzenden rechten Arm. Sehnen und Muskeln, der ganze Körper müsse sich am Anfang erst mal auf das harte körperliche Training einstellen. Solche Malaisen seien relativ normal, kommentiert Lehrer Wiehler trocken, bevor er Jessika dann eine Pause verordnet.

Nur wenige hätten schon „mit der Muttermilch“ die Zirkusluft eingesogen, weiß Wiehler. Es seien wirklich nur ein oder zwei Schüler oder Schülerinnen pro Jahrgang, die aus einer Artistenfamilie stammen, erklärt auch der künstlerische Leiter der Artistenschule, Gerd Krija.

Alle anderen kämen auf anderen Wegen zu diesem Beruf. „Ich habe mir nie vorstellen können, Kraftfahrzeugmechaniker oder Koch zu werden“, sagt Daniel.

Die Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik ist die einzige Schule in der Bundesrepublik, in der Berufsausbildung und Schule Hand in Hand gehen. Beendet wird die Ausbildung mit dem Diplom staatlich geprüfte/r Bühnentänzer/in beziehungsweise staatlich geprüfte/r Artist/in.

Schon zu Zeiten der DDR waren die Staatliche Ballettschule und die Fachschule für Artistik renommierte und international anerkannte Ausbildungsinstitute. Mit dem Ende des SED-Regimes drohte diesen Schulen die Auflösung.

Die Senatsschulverwaltung setzte aber alles daran, die Schulen zu retten. Ganz zum Verdruß der Fraktion der Bündnisgrünen. Die wollte und wolle weiterhin nicht einsehen, warum der Staat über die Schulausbildung hinaus auch noch eine Berufsausbildung finanzieren sollte.

Denn die Finanzierung dieser Schulen, die außerordentlich personalaufwendig und damit kostenintensiv waren und sind, war ein Problem. Im August 1991 fusionierten die Staatliche Ballettschule und die Fachschule für Artistik zu einer gemeinsamen Schule. Der damals begonnene Modellversuch ist jetzt – nach vier Jahren – erfolgreich abgeschlossen und hebt die Schule nun in den Rang einer öffentlichen staatlichen Schule.

Zur Zeit besuchen 210 Schüler und Schülerinnen – 170 TänzerInnen und 40 ArtistenInnen – aus dem In- und Ausland die Schule. Ungefähr die Hälfte davon lebt im angegliederten Internat.

Was die Schule von anderen unterscheidet – das fällt dem Besucher sofort auf –, sind die Motivation und Begeisterung der Schülerinnen. Die Schule ist eine Ganztagsschule, und der Unterricht erstreckt sich auf die Zeit von 8 Uhr morgens bis 17 Uhr nachmittags.

Neben dem normalen Unterricht trainieren die Schüler und Schülerinnen täglich vier Stunden. Der Ballett- und Artistikunterricht wird in den normalen Unterrichtsablauf integriert. Nach zwei Stunden Mathematik trainieren sie zwei Stunden Klassischen Tanz, Gymnastik oder Flamenco. Danach geht es dann weiter mit Biologie, Chemie oder Deutsch.

Dieses Konzept ermüde die Kinder viel weniger als der übliche Blockunterricht – morgens die normalen Fächer, nachmittags Tanz- oder Artistentraining –, erklärt die amtierende künstlerische Leiterin der Staatlichen Ballettschule, Ursula Leesch, das Konzept.

Die Abwechslung zwischen geistigem und hartem körperlichem Training empfinden auch die Schüler und Schülerinnen als wohltuende Entlastung.

Ihren Schulalltag empfinden auch Peggy, Max, Daniel, Jessika und Martina sowie die siebzehnjährige Tänzerin Doreen nicht als besonders kräftezehrend. Doreen besucht die letzte Klasse ihrer Tanzausbildung. Den Realschulabschluß hat sie erfolgreich abgeschlossen. Die harte Ausbildung hat sie nie bereut.

Auch sie trägt wie all die andereren Mädchen die Haare streng nach hinten zu einem Knoten gebunden. „Beim Tanzen darf nichts stören, auch keine Haare“, so ihre Erklärung für den Frisuren-Einheitslook der Ballerinen zumindest auf der Bühne.

Im Anschluß an die Unterrichtszeiten finden meistens noch Proben für öffentliche Aufführungen statt. „Manchmal mache ich mir auch Sorgen, daß es für die Schüler ein bißchen viel wird“, gesteht Schulleiter Hans-Wolfgang Kendzia. Doch Bühnenerfahrung sei ganz wichtig: „Das muß trainiert werden. Lampenfieber muß kalkulierbar werden.“ Dazu müßten die Schüler und Schülerinnen aber im Jahr mindestens zweimal auf die Bühne, erklärt Kendzia die anstrengenden Proben.

Das zweite Klavierkonzert von Dmitrij Schostakowitsch donnert durch das riesige Ballettstudio. Obwohl der vierhundert Quadratmeter große Raum genügend Platz bietet, herrscht hier ein Gewusel wie kurz vor einer Premiere hinter der Opernbühne: Die Abschlußklasse probt eine klassische Tanzinszenierung. An der Stirnseite des Saales sitzen der Choreograph und der Ballettlehrer und die Künstlerische Leiterin. Konzentriert und mit kritischen Augen verfolgen sie die Proben. Dutzende Schüler und Schülerinnen hocken zum Teil sichtlich erschöpft oder mit kleineren Blessuren wie Blasen oder überanstrengten Füßen auf dem Boden.

Gespannt verfolgen sie die Arbeit ihrer Mitschüler: Martina und Marc tanzen einen Pas de deux. Mit der Musik bewegen sie sich voneinander weg und aufeinander zu. Fast schwerelos scheinen die Sprünge zu sein.

Plötzlich springt der Choreograph auf und schreit durch das Studio: „Martina, siehst du den Jungen überhaupt, mit dem du tanzt?!“ „Stop!“ verordnet er: „Die ganze Sequenz noch einmal von vorn, Musik!“

Ein Paar Türen weiter probt Ballettlehrerin Györgyi Seilkopf die „Winterreise“ von Franz Schubert. Für die annähernd zwanzig Ballerinen ist der Raum fast zu klein. Trainingsschweiß liegt in der Luft. „Jetzt liegt ihr den Zuschauern der ersten Reihe auf dem Schoß.“ „Beine nicht knallen lassen!“ „Nicht arbeiten, sondern tanzen!“ kommandiert die Ballettlehrerin.

Noch sind die beiden Schulen räumlich getrennt. Die Artistenschüler haben ihre Klassenräume und Übungshallen in der halben Stadt verteilt, während die Tänzerinnen und Tänzer alles kompakt vor Ort haben. Klassenzimmer, Ballettstudios, Internatsräume und Schulkantine liegen in einem Schulkomplex.

Die räumliche Annäherung von Ballett und Artistik ist jedoch geplant. In zwei Jahren sollte hier in diesem Gebäudekomplex für die Artisten eine große Übungshalle gebaut werden.

Doch inzwischen ist wieder alles offen. Angesichts der Finanznot der Stadt gibt es Überlegungen im Senat, die Staatliche Ballettschule und die Schule für Artistik zu privatisieren.

Vollkommene Konzentration, Genauigkeit bei der Ausführung, Wille, Grenzüberwindungen, Selbst-Bewußtsein, ein gewisser Hang zum Exhibitionismus und Lust zur Selbstquälerei, das sei das Destillat der Fähigkeiten, die die Jungen und Mädchen brauchten, um an der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik bestehen zu können.

Ansonsten schaffe man das vorgegebene Pensum nicht, ist der künstlerische Leiter der Fachschule für Artistik, Gerd Krija, überzeugt.

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