Sanssouci: Vorschlag
■ Laubsägearbeiten mit Gefühlsverstärker: Tortoise im Loft
„Zukunftsmusik“, „Evolution in Musik“, „Meister des Abstrakten“, „Rettung von Indierock“, „Postrock“: Für die Chicagoer Band Tortoise wird allerorten tief in die Begriffskiste gegriffen. Besonders ihr gibt man die Schuld, die Hörgewohnheiten des gemeinhin etwas konservativen Indievolks entscheidend verändert zu haben. Viel Lob, Ehr und Bürde also.
Fest steht, daß Tortoise den alten Zopf Rock mit allem denkbaren instrumentellen Equipment auf abstrakte und trotzdem erfaßbare Ebenen bringen und fiese, aber beliebte Gefühlsverstärker wie Gesang und Refrains zugunsten arhythmischer Klangmassen in die Kommode von gestern abgelegt haben – mit dem zusätzlichen Effekt, daß jämmerliche Autorschaften und rockistische Egotrips in kollektiven Zusammenhängen verschwinden. Kräftiger Tobak, das, doch strictly Kopfmusik produziert diese Band nicht, netterweise hält sie immer auch unterhaltsame Aspekte bereit: Oft klingen ihre Stücke wunderschön leicht, nennen wir es Easy Listening, oder sie fließen gemächlich dahin, nennen wir es Ambient, oder sie stoppen und brechen stimmungsvoll, nennen wir es Dub. Alles findet seinen Platz, aber nie einen festen. Tortoise bezeichnen ihren Sound als ein „offenes System“, als Musik ohne Grenzen, der leider die Zwänge der Aufnahmetechnik und des Albumformats in der Quere sind. Entwickelt werden kann dieses System am besten live, wenn die Freiheiten der Improvisation zur Verfügung stehen, der richtige Durchgangsraum für die Klangkörper vorhanden ist und die Songs komplett auf den Kopf und in die Wälder gestellt werden können.
Wo man Tortoise nun als so immens neu und seelenrettend feiert, bleiben typische Pop-Phänomene wie Chic, Hype und Angesagtheit bis zum Überdruß natürlich nicht aus. Interessant wird da die Kollision mit dem Mainstream, mit Leuten, die in ihrem Architekturbüro vor kurzem noch Nick Cave als das Maß aller musikalischen Aufgeregtheit gehört haben, deren popmusikalisches Geschichtsverständnis ansonsten aber dünn und ohne Belang ist: Spaß und referenzlose Laubsägearbeiten unterlaufen in diesem Fall den fein gezirkelten ideologischen Überbau, doch selbst das dürfte im Konzept von Tortoise keine ganz unwichtige Rolle spielen. Gerrit Bartels
Tortoise, The Sea and Cake, TransAm. Heute, 20.30 Uhr, Loft, Nollendorfplatz, Schöneberg
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