: Vom Pesthaus zur Spitzenklinik
Die Geschichte der Charité begann mit der Pest. Friedrich I. schloß 1709 die Grenzen und ließ 1710 das erste Gebäude des heutigen Krankenhauses errichten ■ Von Markus Grill
Aus der Pestzeit steht kein Gebäude mehr. Die 20 BesucherInnen bei der Führung durch die Geschichte der Charité müssen sich deshalb um einen Lageplan am Eingang des Klinikgeländes versammeln. „Hier ungefähr muß das ursprüngliche Haus gestanden haben“, sagt die Kunsthistorikerin Andrea Sybille Pittke, die die Führung am vergangenen Sonntag organisiert hat. Damit die überwiegend älteren Damen sich die Entstehungszeit besser vorstellen können, liest die Leiterin des Rundgangs einen Text aus Johann Friedrichs „Kurzgefaßten historische Nachrichten von den öffentlichen Armenanstalten in der königlichen Residenzstadt Berlin“ vor: „Als in den Jahren 1709 und 1710 das Königreich Preußen von dem Allerhöchsten mit einer wütenden Pest heimgesucht wurde und zu befürchten war, dass sothane Landplage auch wohl gar in die hießige Residentz geschleppt werden könnte, liessen Seine Königliche Majestät Anno 1710 ausserhalb der Stadt an derselben West-Nord- Seite auf einem freyen Platz, ein grosses Gebäude von ausgemauertem Fachwerk, auf Dero Kosten errichten.“
Der 52jährige Preußenkönig hatte der Pest den Kampf angesagt. Am 9. Oktober 1709 hatten ihm seine Professoren vom Collegium medicum gemeldet, die Pest sei jetzt auch nach Preußen eingedrungen. Seit zwei Jahren tobte sie bereits in Polen. Im Juli 1709 waren ihr in Danzig 1313 Menschen zum Opfer gefallen, im August 6000, im September 8000. Preußenkönig Friedrich I., der den Hofstaat seines französischen Berufskollegen imitierte, hatte alle Grenzübergänge ins Polnische gesperrt, Brücken zerstört, Pestgalgen zur Abschreckung aufgestellt.
Im November schließlich hatte Friedrich ein von seinen Beamten ausgearbeitetes Pestreglement unterzeichnet, das zu den Grundbausteinen der Charité gehört. In Kapitel IX heißt es: „Dass weit außerhalb jeder Stadt insonderheit bei dero Residentzien Lazareth-Häuser zu errichten sind, an solchen Orten, die luftig seyn und von Winden bestrichen werden können.“
Der König ließ das Gebäude außerhalb der Stadt, auf dem Gelände der heutigen Charité, errichten. Berlin endete an der Spree. Das Gebäude war dem Bericht zufolge quadratisch, praktisch, gut. Es hatte zwei Etagen, an allen vier Ecken Erker und in der Mitte einen großen Innenhof. An drei Seiten war es mit einem hohen Zaun umgeben, innerhalb dessen Gemüsebeete und Kartoffeln angebaut werden konnten – die Pestkranken sollten keinen Kontakt zur „Residentz“ haben. In puncto Hygiene stellte das Pesthaus an der Spree die anderen Spitäler Europas in den Schatten. Während andernorts oft drei bis acht Kranke sich ein Bett teilen mußten, sollte hier jeder sein eigenes haben.
Als 70 Kilometer nördlich Berlins, in Prenzlau, ein Pestfall bekannt wurde, wurden die Stadttore geschlossen. Zweihundert Meter vor dem Tor mußte jeder, der in die Stadt wollte, seinen Paß auf den Boden legen und zurücktreten. Berlin hatte aber Glück: Der König verordnete tägliche Betstunden und die Landeskinder wurden von der Pest verschont. Der errichtete Großbau wurde deshalb zum Obdachlosenheim und Militärlazarett umfunktioniert. Wohnsitzlose wurden aufgegriffen, von der Polizei eingewiesen und mußten in Küche und Garten arbeiten. Die Folgen der Kasernierung wirkten: Die Vossische Zeitung lobte, die Stadt habe schon lange nicht mehr so sauber ausgesehen, wie nach Errichtung des Obdachlosenheims.
1726 schlug der Stadtphysikus Habermaaß vor, das Gebäude in ein Bürgerlazarett und eine praktische Studienstätte des vor kurzem gegründeten Collegium medico- chirurgicum zu nutzen, das eine verbesserte Ausbildung für Militärärzte schaffen sollte. Inzwischen regierte Friedrich Wilhelm I. in Preußen und er stimmte dem Vorhaben zu. Am Neujahrstag des Jahres 1727 wurde das Hospital in Betrieb genommen, zwei Wochen später betimmte der König den bis heute gültigen Namen: Charité. Eine erste große Umbauphase erfuhr die Klinik um 1800. Damals wurden Neubauten im typischen Palazzi-Stil gebaut. Die ältesten erhaltenen Häuser stammen aus dieser Zeit, wie etwa das ehemalige Pockenhaus, in dem heute das Institut für Experimentelle Endokrinologie untergebracht ist.
Mit der Gründung des Kaiserreichs wurde die Charité zunehmend zu einem Prestigeobjekt. Bekannte Ärzte wie Sauerbruch wurden hierhergelockt. Ihm war gestattet worden, auf dem Charité- Gelände eine Privatklinik zu erbauen für seine Privatpatienten, zu denen dann der Maler Max Liebermann oder der griechische König gehörten. Auch zu DDR-Zeiten war die Charité ein Vorzeigeklinikum. Heute muß das Krankenhaus im Kampf gegen den Senat seine Bettenzahl (derzeit 1800) verteidigen. Manche niedergelassenen Ärzte haben inzwischen Praxen auf dem Klinikgelände.
Am Ende der Führung war dann doch noch ein Relikt aus der Pestzeit zu entdecken: An der Fassade der Medizinischen Klinik hängt eine Uhr, die aus der Frühzeit stammen soll. Ganz genau wisse sie das aber auch nicht, gesteht die Kunsthistorikerin.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen