: Eine Verführerin läßt sich verführen
Cathleen Schines Roman einer unpassenden Passion im amerikanischen Mittelschichtsmilieu: „Der Liebesbrief“ ist ein Liebeskrimi, der mit Ironie lehrt, den Zufall für würdig zu halten, über unser Schicksal zu bestimmen ■ Von Jörg Lau
In diesem Roman, dem zweiten auf deutsch vorliegenden Werk der New Yorker Autorin Cathleen Schine, spielt ein Zufall eine wichtige Rolle.
Damit ist zwar noch fast nichts gesagt – denn welcher Roman kommt schon ganz ohne zufällige Verknüpfungen aus –, aber zugleich auch schon fast zuviel, denn es gehört zu dem kriminalistischen Reiz dieses ironischen und klugen Buchs, die Mischung von Blindheit und Einsicht zu beobachten, mit der sich die Personen der Handlung wechselseitig beobachten und zu steuern versuchen. Deshalb keine weiteren Enthüllungen, nur eine Bemerkung noch darüber, wie hier literarisch gewürfelt wird. Man könnte eine eigene Literatursoziologie darauf aufbauen, welchen Stellenwert die Autoren einer Epoche dem Zufall geben. Eine groteske Häufung von Zufällen, die die Welt als eitles Glücksspiel erscheinen läßt; der Zufall, der am Ende zur Aufdeckung aller Missetaten führt; ein Zufall, durch den sich die Lebenslinien von Menschen treffen, die durch Stand, Klasse, Schicht getrennt sind – all dies leuchtet uns nicht mehr ein wie noch Lesern früherer Zeiten. Den alten Zufallskonstellationen fehlt in einer kontingenten Welt der Kontrast, vor dem sie kontrafaktisch und außergewöhnlich erscheinen könnten. Unser Interesse am Zufall hat sich demgemäß verschoben. Es geht jetzt nicht mehr darum, das Bestehende als „Willkür der Fortuna“ zu desavouieren, sondern damit leben zu lernen, daß aus Zufällen ein Schicksal, aus einer flüchtigen Anwehung Verfallenheit, aus einem Flirt eine Verstrickung wird.
Es gibt zwei Denkschulen, die dieser Lage Rechnung tragen – die Systemtheorie Niklas Luhmanns mit ihrem Begriff der „Kontingenz“ und die Psychoanalyse: „Wenn man den Zufall für unwürdig hält, über unser Schicksal zu entscheiden, ist es bloß ein Rückfall in die fromme Weltanschauung, deren Überwindung Leonardo vorbereitete, als er niederschrieb, die Sonne bewege sich nicht.“
Was das alles mit dem Buch von Cathleen Schine zu tun hat? Nun, „Der Liebesbrief“ ist ein Roman auf der Höhe dieses Freudschen Rats, daß wir den Zufall nicht für unwürdig halten sollten, über unser Schicksal zu entscheiden. Wer das für wenig hält, möge sich klarmachen, daß sich mit dieser Wendung ein Verständnis vom Selbst als kostbarer, zu entdeckender und zu hegender Substanz erledigt hat; übrig bleibt ein mehr oder minder gut laufendes Maschinchen, an dem man ständig herummodeln muß. Autoren, die auf diese Lage ohne apokalyptische Strafphantasien und Vernichtungswünsche zu reagieren vermögen, sind nach wie vor dünn gesät. Cathleen Schine gehört dazu, und dabei sind gerade Schuldgefühle und Überforderungen ihr Thema.
Cathleen Schines Heldin Helen MacFarquhar, eine geschiedene Frau um die Vierzig, allein mit ihrer Tochter lebend, findet eines Tages einen anonymen Liebesbrief in ihrer Post. Darin schreibt ein gewisser „Bock“ einem „Schaf“ von der Not, die (den?) Angebetete(n) nur aus der Ferne verehren zu dürfen. Helen betreibt einen wohlsortierten, kleinen Buchladen in einer Ostküstenkleinstadt, die vor allem von der akademischen Mittelschicht bewohnt wird. Sie hat in diesem zweiten Leben, das sie sich mit dem Geld aus der Scheidung aufgebaut hat, ihre Bestimmung gefunden: Helen ist ein Genie des Flirts, eine begnadete und erfolgreiche Verkäuferin, weil sie die Verführung liebt; mit sportlichem Ehrgeiz macht sie aus Lesern von John Grisham Leser von Julian Barnes und begeistert Militaria-Freaks für die Romane von Barbara Pym. Und weil sie die Verführung um ihrer selbst willen liebt, macht Helen damit nicht beim Buchverkauf halt. In ihrem ersten Jahr nimmt sie sich aus ihrem Kundenstamm eine Reihe von trostbedürftigen Witwern und geschiedenen Ehemännern, so wie man sich etwas gönnt, was man sich lange genug verdient hat: „Sie schlief mit ihnen mit der Konzentration einer Schwimmerin, die im Training ihre Bahnen zieht. Aber sie trainierte für nichts. Sie hatte schon gewonnen. Sie kostete die Früchte ihres Erfolges aus. Ihre Preise.“
Es ist also nicht ganz unwahrscheinlich, daß die poetisch- schwärmerischen Zeilen des Liebesbriefes ihr gelten. Wäre der Brief gezeichnet, könnte Helen ihn abwehren oder annehmen und ihr souveränes, kokettes Spiel mit dem Autor beziehungsweise der Autorin beginnen. Daß er keinen identifizierbaren Autor hat, gibt seinen paar Zeilen eine nahezu unwiderstehliche Macht. (Weshalb auch die Verrückten, die unsereinen hier in der Zeitung mit ihren Briefen beherrschen wollen, peinlich auf Anonymität achten.) Nach einer Phase der Ambivalenz, hin- und hergerissen zwischen dem unangenehmen Gefühl angemaßter Intimität und dem narzißtischen Vergnügen, sich vorzustellen, sie sei das Objekt einer Obsession, beginnt Helen, in ihrer Umgebung nach möglichen Absendern zu fahnden.
Bald kann sie den Brief auswendig, und der anfängliche Verdacht, sie sei nicht gemeint, tritt in den Hintergund. War es einer ihrer abgelegten Herren, war es eine ihrer jungen Mitabeiterinnen – oder etwa der junge Johnny, ein Student, der ihr in den Ferien aushilft, Sohn eines befreundeten Ehepaars? Indem Helen ihre Welt auf der Suche nach einem Autor neu sortiert, entfaltet sich das Drama einer verführten Verführerin. Während sie Johnny lehrt, wie man Kunden verführt, wird sie selber immer mehr von dem Gedanken verführt, Johnny könnte den Brief geschrieben haben. Also verführt Helen Johnny dazu, den Brief zu lesen, indem sie ihn offen liegen läßt. Nun muß Johnny, der nicht der gesuchte Autor ist, darüber nachdenken, warum Helen ihn einen solch intimen Brief lesen ließ – und wer ihn ihr wohl geschrieben haben könnte. Oder sollte sie, Helen, ihn etwa geschrieben haben, um ihn, Johnny, zu verführen? Helen „Bock“ – Johnny „Schaf“?
Die Liebesgeschichte der älteren Frau mit dem zwanzigjährigen Studenten, die sich nun beide als Adressaten des mysteriösen Briefes begreifen, wird von Schine mitsamt den unvermeidlichen Gewissensnöten (Ödipus! Oder vielmehr: Jokaste!) und Kulturschocks („Was ist eigentlich alternative Musik?“) ebenso einfühlsam wie materialreich beschrieben. Da Autorin und Heldin gleich alt sind, ist man auf solche Empathie gefaßt, aber auch der jüngere Mann ist hier auf eine Weise erfaßt, daß sich mancher Leser kalt erwischt fühlen wird.
Am Ende findet der vagabundierende Brief seinen Kontext. Es war also alles ein Irrtum, würden Leute sagen, die an die Reinheit des Anfangs glauben. Cathleen Schine gehört nicht zu ihnen, und braucht daher auch nicht ihre beiden Liebenden für ihre blinden Flecken zu bestrafen. Es heißt übrigens, daß Steven Spielberg aus dem Buch einen Film machen will. Was wieder einmal für ihn spricht. Und, was mich betrifft, auch für das Buch.
Cathleen Schine: „Der Liebesbrief“. Aus dem Amerikanischen von Giovanni Bandini und Ditte König. Carl Hanser Verlag 1996, 283 Seiten, geb., 36 DM
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