: Katzenjammer im Billiglohnland
Sind niedrigere Löhne der Königsweg zur Vollbeschäftigung? Das Beispiel USA legt dies nahe. Ein besseres Leben ergibt das aber noch nicht ■ Von Andrea Böhm
Die Zahl klingt verlockend – so verlockend, daß sich europäische Politikerhälse immer weiter über den Atlantik recken: Ein Arbeitslosenrate von 5,4 Prozent meldete das US-Arbeitsministerium für den Monat April.
Ein paar Tage später lieferten die zwölf regionalen Zentralbanken des „Federal Reserve System“ der USA, kurz „Fed“ genannt, weitere aufmunternde Details: An der Westküste stabile Preise und ein Aufschwungtrend für den Einzelhandel und den Dienstleistungssektor; in Chicago und den umliegenden Bundesstaaten gute Konjunktur und Knappheit an Arbeitskräften; in Minneapolis mußte die Stadtverwaltung das Mindestalter für Busfahrer auf 19 Jahre senken, um offene Stellen zu besetzen; Hotels und Restaurants in Kansas und Tennessee müssen Arbeitskräfte im Ausland rekrutieren.
„Arbeitskräftemangel ist derzeit das größte Problem der Unternehmen“, resümierten die Autoren des „Fed“, „obwohl die Nachfrage im Produktionssektor nachläßt.“ Arbeitskräftemangel? Wie schreibt man das auf deutsch?
8,5 Millionen Arbeitsplätze, davon 7,9 Millionen in der Privatwirtschaft sind seit Januar 1993 in den USA geschaffen worden – und keineswegs nur bei McDonald's (siehe Kasten). Das freut den Präsidenten, der im Wahljahr für diese Bilanz gern über Gebühr gelobt werden möchte. Was Bill Clinton und seine Berater mit Sorge erfüllt, ist die Stimmung im Volk, das nicht so recht mitjubeln will – und die Unkenrufe zahlreicher Ökonomen, Bankiers und Unternehmensberater. Die Wachstumsrate sei zu klein, klagen die einen; die Löhne stagnieren immer noch, warnen die anderen; das soziale Netz zerreißt, rufen die dritten.
Spätestens seit Pat Buchanan im republikanischen Vorwahlkampf mit rechtsradikaler Rhetorik sowohl ökonomisch verängstigte Angehörige der unteren Mittelschicht als auch christliche Fundamentalisten um sich scharte, ist die Entwicklung der Reallöhne und das immer schnellere Heuern und Feuern von Arbeitnehmern wieder ein Wahlkampfthema. Ob dieser Umstand am Ende einer ernsthaften Debatte oder gar Lösung des Problems zuträglich ist, bleibt abzuwarten.
Das Problem stellt sich, kurz und knapp, folgendermaßen dar: Seit 1973 sinkt in den USA das mittlere Reallohneinkommen für Männer (gemeint ist hier nicht der statistische Durchschnitt, sondern der Median – der Wert, der in einer Auflistung aller gezahlten Reallöhne genau in der Mitte stehen würde). Millionen US-amerikanischer Familien kompensierten diese Einbußen durch ein Zweiteinkommen – Emanzipation und finanzieller Druck ließen immer mehr Frauen in die Arbeitswelt eintreten. Seit 1989 sind aber auch Arbeitnehmerinnen von Lohneinbußen betroffen. Betrug das mittlere Einkommen eines US-amerikanischen Haushalts 1989 noch 33.585 Dollar im Jahr, so sank es nach Berechnungen von Lester Thurow, Ökonom am „Massachusetts Institute for Technology“ (MIT) bis 1993 auf 31.241 Dollar.
Die Folge: AmerikanerInnen arbeiten immer mehr für immer weniger Geld. „Die Arbeitswoche ist länger geworden“, sagt US-Arbeitsminister Robert Reich. „Viele jonglieren heute zwei oder drei Jobs. Ich treffe auf meinen Reisen durch das Land Leute, die 80 oder 90 Stunden in der Woche schuften.“ Diese Entwicklung, mit verursacht und beschleunigt durch massive Deregulierung, die Zerschlagung der Gewerkschaften, neue Technologien, Konzern-Fusionen und die „Verschlankung“ der Produktion („lean production“) schafft Angst, die durch Massenentlassungen großer Konzerne noch potenziert wird. „Downsizing“ heißt dies im Lexikon der Euphemisten. Der Begriff beschrieb in den 70er Jahren in der Autoindustrie den Trend zum kleineren Wagen. Heute ist damit die Verkleinerung der Belegschaft gemeint.
Spitzenreiter im „downsizing“ ist der Telefonkonzern AT&T, der in den letzten vier Jahren 123.000 Stellen gestrichen hat. Auf Platz zwei folgt die Computerfirma IBM mit 122.000 Stellen, gefolgt von General Motors (99.400 Stellen) und Boeing (61.000 Stellen). Wie in zahlreichen Phasen des „downsizing“ finden die entlassenen Arbeitnehmer auch heute schnell neue Arbeitsplätze. Doch nach Angaben des US-Arbeitsministeriums landen 65 Prozent von ihnen in Jobs, die schlechter bezahlt werden. „Eine niedrige Arbeitslosenrate bedeutet wenig“, schrieb die New York Times, „wenn ein Fabrikarbeiter mit
15 Dollar Stundenlohn gefeuert wird und in seinem nächsten Job nur noch die Hälfte verdient.“
Allerdings ist im Gegensatz zur letzten Entlassungswelle Anfang der achtziger Jahre nicht der Fabrik-, sondern der Büroarbeiter des unteren und mittleren Managements das prototypische Opfer des „downsizing“, das hier als eine Auslagerung ganzer Arbeitsbereiche in ungeschütztere Verhältnisse auftritt.
Die Betroffenen finden neue Jobs oft in kleineren Firmen, die für ihre ehemaligen Arbeitgeber Produktionsabläufe und Dienstleistungen wie Lohnbuchhaltung, Steuerabrechnung, Computerwartung und so weiter verrichten – zu günstigeren Preisen, weil in kleinen Betrieben Lohn- und Sozialkosten erheblich niedriger sind. Gewerkschaften spielen keine Rolle, Krankenversicherung und angemessene Pensionsfonds gibt es schlicht nicht.
An diesem Punkt taucht das spezifisch US-amerikanische Dilemma auf: Im Gegensatz zu Japan und den westeuropäischen Industrienationen, wo staatliche Gesetze und Vereinbarungen bislang Krankenversicherung, Renten und andere Sozialleistungen garantieren, beruht die soziale Absicherung in den USA zu großen Teilen auf einem ungeschriebenen Solidarabkommen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Große Unternehmen boten ihren Angestellten Krankenversicherung, bezahlten Urlaub, Weiterbildung und Pensionen. Im Zuge der Kostensenkung schrumpft dieses Angebot. Kleinere Firmen können sich solche Angebote oft überhaupt nicht leisten.
Wer in den USA seinen Arbeitsplatz verliert, verliert in der Regel auch seine soziale Absicherung. Nicht einmal ein Gesetzentwurf, der es einem Arbeitnehmer ermöglichen würde, seine Krankenversicherung an den nächsten Arbeitsplatz mitzunehmen, konnte bislang im Kongreß durchgesetzt werden – ganz zu schweigen von Bill Clintons Reform des Gesundheitswesens.
Niemand in den USA bestreitet derzeit, daß dieser immer schnellere Kreislauf des „fire and hire“ – des Feuerns und Wiederanheuerns zu schlechteren Bedingungen – die Profitraten der Unternehmen und vor allem ihre Aktienkurse in die Höhe treibt.
Als der Telefonkonzern AT&T trotz eines hervorragenden Geschäftsabschlusses 1995 vor wenigen Monaten die Entlassung weiterer 40.000 Mitarbeiter ankündigte, quittierte die Börse an der Wall Street diese Meldung mit einem rapiden Wertanstieg der Firmenaktien. „Turbo-Kapitalismus“ nennt dies Edward Luttwak, Unternehmensberater und Forschungsstipendiat am „Center For Strategic And International Studies“ (CSIS), einem think tank in Washington.
Während man nun in Europa mangels jeder Politik gegen Arbeitslosigkeit mit Deregulierung, Abbau von Sozialleistungen und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes liebäugelt, wird in den USA immer lauter die Frage nach den sozialen Kosten des „Turbo- Kapitalismus“ gestellt. Elternpaaren mit schrumpfendem Einkommen trotz zwei oder drei Jobs bleibt kaum mehr Zeit für Familienleben und Kindererziehung. Rückgängige Geburtenraten, wachsende Scheidungsraten, labile und gefährdete Jugendliche sind die Folge. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zwingt zunehmend mehr Arbeitnehmer, im Laufe ihres Berufslebens sechs, sieben oder zehnmal von einer Ecke des Landes in die nächste zu ziehen. Sie werden höchst mobile Einheiten für Arbeitgeber ohne jede Verwurzelung, was sie zu höchst unberechenbaren Faktoren für das soziale und fiskalische Gefüge von Gemeinden und Städten macht. „Turbo-Kapitalismus ist wunderbar und effizient für die Konzerne“, sagt Luttwak. „Er macht nur leider unsere Gesellschaft kaputt.“
Ähnliche Töne hört man inzwischen sogar aus der moderaten Ecke der Republikaner. Die Diskussion um „family values“ und die moralische Krise der Nation ist plötzlich nicht mehr so einfach von den ökonomischen Nöten der Familien zu trennen. Linksliberale Kommentatoren wie der Buchautor und Washington Post-Kolumnist E. J. Dionne wagen sogar die Prognose, daß der Ruf der Wähler nach dem Staat als Garant sozialer Leistungen wieder laut werden könnte.
Doch mangels politischem Druck, Willen und Spielraum zeigt sich Bill Clinton zu solchen Schritten bislang nicht bereit. Statt dessen wird im Weißen Haus die Suche nach „sozial verantwortlichen Arbeitgeber“ und dem „national gesinnten Unternehmen“ proklamiert – nach dem „guten“ Kapitalisten also, der für seine Arbeitgeber Pensionsfonds einrichtet, in ihre Fortbildung investiert, ihnen eine Krankenversicherung anbietet, Neuinvestitionen überwiegend in den USA tätigt sowie Arbeits- und Umweltschutz ernst nimmt. Arbeitsminister Robert Reich und einige demokratische Senatoren wollten solche „Unternehmer mit Bürgersinn“ gerne mit Steuererleichterungen bedenken. Das ging dem Präsidenten aber schon zu weit. Durch seine oberste Wirtschaftsberaterin Laura Tyson ließ er ausrichten, er wolle lieber von der Höhe der präsidialen Kanzel herab gute Kapitalisten loben und schlechte zur Besserung gemahnen.
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