Crescendo des Nachlassens

Ungewohnt friedfertig erlebten die Ajax-Hooligans die Niederlage ihres Teams im Champions-League-Finale gegen Juventus Turin  ■ Aus Rom Werner Raith

Selbst nach dem dritten Joint ist Piet noch nicht drüber weg: „Die größte aller Katastrophen“ nennt er das, was andere, auch aus seinen Landen, in den vergangenen drei Stunden erlebt haben: „Nix da, woran man sich reiben kann, keine Gegner, keine aufgemotzten Hooligans, nicht mal die Bullen beißen...“ Die lassen ihn, mit mildem Lächeln, nach dem Spiel auch dann unbehelligt, als er provokativ ein weißes Briefchen aus der Tasche zieht und mit einer Heroinspritze winkt: „Friede, Freude, Eierkuchen“ ist auch das Motto der römischen Ordnungshüter. Sie grinsen so breit, als hätten sie eben selbst mal eine Runde gehascht. Und die Turiner Tifosi scheinen nach dem 4:2 im Elfmeterschießen trotz schnell gestürmter Bierlager am Rande der Bannmeile eher feingescheitelte Internatsschüler auf Heimaturlaub denn schlägertüchtiger Horden.

Die „größtmögliche Katastrophe“: für Piet, für Axel und Kalle, der aus dem deutschen Grenzgebiet stammt und bei den „Höllenhunden“ als eine Art Ehrengast mitmachen darf, besteht sie weniger in der Niederlage ihres Clubs Ajax Amsterdam, sondern darin, daß am Spiel und dem Umfeld „absolut nichts auszusetzen ist“. Keine prügelnden Polizisten vor der Partie, keine dreinschlagbereiten Juve-Tifosi in greifbarer Nähe, während des Spiels keine spektakuläre Fehlentscheidung des spanischen Schiedsrichters Diaz, keine böse Verletzung irgendeines Spielers, und auch die Tore gehen in Ordnung. Ravanellis Schuß aus spitzem Winkel (13. Minute) „war schon Klasse“, greint Axel und sagt das so, als wären schöne Tore beim Fußball so ziemlich das letzte, was man sich wünschen kann; der Ausgleich durch Litmanen aus dem Gewühl (40. Minute) war ebenfalls schön, aber es wäre schon besser, einer hätte noch irgendwo die Hand dazwischen gehabt und der Schiedsrichter es nicht gesehen. Fazit: „Tote Hose“.

Hätten sich Piet und seine Kumpane in der Nordkurve eine Neuauflage der Vorgänge im Heysel- Stadion von Brüssel vor elf Jahren gewünscht? „Tote nein“, sagt Kalle, „aber das Herumkicken mit dem Ball ist doch wirklich nicht alles.“ Nur einmal an diesem Tag hatte die Gruppe einen Adrenalinstoß verspürt – als sie, vorsorglich schon am Samstag angereist, unversehens von einer Polizeipatrouille gestoppt wurde und man ihre Ausweise überprüfte: „Habe auch keine Ahnung, warum mein Name nicht gespeichert ist“, brummt Axel. Offenbar ist die Nichtspeicherung eines bewährten Hooligans eine glatte Unverschämtheit, die den ganzen Nimbus ruinieren kann. An die zweihundert amtsbekannte Fans wurden von der römischen Polizei auf Anraten ihrer extra angereisten holländischen Kollegen vorsorglich aus dem Verkehr gezogen, zwei Dutzend weitere, obwohl nicht gespeichert, wegen allzu lautstarker Szenen in der römischen Innenstadt vorläufig festgenommen. „Und das war's denn auch“, klagt Axel, „wo bleibt da unser einst so berüchtigter Biß?“

Tatsächlich gehörte das Europacup-Finale der Landesmeister zwischen Ajax Amsterdam und Juventus Turin zu jenen Ereignissen, die die Vorgänge auf dem Rasen durch fortschreitenden Kräfteverschleiß auch das Publikum so gründlich einschläferten, daß am Ende nicht einmal mehr Wut übrigblieb. Das frühe Juve-Tor und der Ausgleichstreffer kurz vor Seitenwechsel weckten im Stadion zunächst hohe Erwartungen – doch dann blieben die Tore aus. Die Zahl der Chancen stieg zwar, doch parallel dazu verminderte sich die Kraft der Kicker zum erfolgreichen Abschluß. Ravanelli brachte es sogar fertig, aus gut sechs Metern Entfernung und günstigem Winkel nur das Außennetz zu treffen. „Ein Crescendo des Nachlassens“, wie ein Kollege aus Belgien in sein Aufnahmegerät diktierte: „Stehend k.o.“ sähen sie aus, die Balltreter, „selbst langsam dahinrollenden Bällen setzt in der Verlängerung kaum mehr jemand so richtig nach“. Und entsprechend deutlich war auch die Ermüdung der Zuschauer; bengalische Feuer wurden zwar immer mal wieder angezündet, aber viel weniger als sonst üblich.

Wie müde alle waren, zeigte das Elfmeterschießen. Als der Unglücksrabe Davids gleich den ersten Schuß genau in die Mitte des Tores setzte und Torhüter Peruzzi ohne Mühe parierte, war der Aufschrei der immerhin gut 20.000 holländischen Fans „ebenso wenig tierisch wie das Jubelgeheul der Juventini“, kommentierte Axel, „und, nach dem Spiel, das Rumgesitze der Ajax-Kicker auf dem Rasen sah wirklich aus, als wären sie nur einfach physisch fertig und nicht der Niederlage wegen“.

So erleben Piet und seine Mannen am Ende eine ganz ungewohnte Wende ihres bisherigen Fan-Lebens: Statt jemand für eine handfeste Prügelei zu suchen, lassen sie, gegen zwei Uhr auf dem Gianicolo-Hügel hinter dem Vatikan, gar einige italienische Tifosi an sich heran und setzen sich mit ihnen auf die Mauer, von der aus man unten das nächtliche Rom schön gleißen sieht. Einer der „Juventini“ kennt einen Ajax-Club- Präsidenten, was Vertrauen schafft, und so radebrecht man sich noch einmal durch die Partie durch: „Du mußt uns das gönnen“, sagt Gianluca, „Juve hatte diesmal ganz Italien zu rächen: Schließlich sind wir in keinem der europäischen Wettbewerbe zum Zuge gekommen. Und Meister sind wir auch nicht geworden.“

Piet nickt verständnisvoll. Er hat nicht einmal mehr die Kraft, auf die „Flaschen“ zu schimpfen, die da aus seiner „so hoch gelobten Mannschaft“ gleich zwei von vier Elfmetern verschossen haben. „Wir müssen von vorn anfangen“ vermutet er, mit fast staatstragender Stimme, ehe er sich noch einen Joint anzündet; das weiße Päckchen, mit dem er den Polizisten zu provozieren versucht hat, fällt dabei aus der Tasche. „Kannst lassen“, sagt er, als Gianluca es aufheben will, „is' eh nix drin, wollte nur den Bullen ärgern.“

Juventus Turin: Peruzzi - Torricelli, Ferrara, Vierchowod, Pessotto - Conte (44. Jugovic), Sousa (57. Di Livio), Deschamps - Vialli, Ravanelli (78. Padovano), Del Piero

Zuschauer: 67.000; Tore: 0:1 Ravanelli (12.) 1:1 Litmanen (41.)

Elfmeterschießen: Davids gehalten, 0:1 Ferrara, 1:1 Litmanen, 1:2 Pessotto, 2:2 Scholten, 2:3 Padovano, Silooy gehalten, 2:4 Jugovic

Ajax Amsterdam: Van der Sar - Blind - Silooy, Bogarde, Frank de Boer (69. Scholten) - Ronald de Boer (91. Wooter), Litmanen, Davids - Finidi George, Kanu, Musampa (46. Kluivert)