: Der machtlose Faktor Mensch
■ Heute im Schlachthof: Neurosis, Unsane & Co.
„Überhaupt Musik zu machen zu können ist schon ein Fortschritt. Wenn wir nicht gelernt hätten, uns so auszudrücken, wäre da nur der Schmerz.“ Wenn jemand sein Dasein beschreibt, liegt nah, daß der kreative Output markerschütternd finsterer Natur ist. Scott Kelly ist Teil eines brutalen Klangkollektivs, das die Wut über die Ausweglosigkeit unseres Daseins in Gitarren packt: Neurosis.
In Oakland, Kalifornien artikulierte sich der Neoweltschmerz von Scott und Co.vor neun Jahren zunächst als wütender Hardcore. Dem Genre entwuchs die Band- und Lebensgemeinschaft schnell. Stetig kreisende Basslinien und wildes Getrommel tragen heute das An- und Abschwellendes der urbanen Stammesgesänge. Scott Kelly entlockt seiner Gitarre elektrisch fast ins keyboardartige verfremdete Flageolettöne, die wie ein sphärisches Kreischen über dem Rhythmus stehen, bis sie in brutalen Moshparts aufgehen. Wieder und wieder kreischen zerberstende Autowracks, gequälte Seelen, gefangen in endlos laufenden Sampling-Schleifen, aus dem apokalyptischen Gedröhne drängen nur vereinzelt menschliche Geschrei-Schnipsel an die Oberfläche. Die Form ist auch der Inhalt des Schaffens der Westküstler: Der Faktor Mensch ist machtlos, brüllt fast unhörbar gegen das Mahlen der Maschine.
Angekündigt und aufgelöst werden die brachialen Spannungsbögen von Momenten sphärischer Piano-Schönheit, von indigenen Getrommel-Andeutungen einer längst unerreichbaren, erstrebenswerten Daseinalternative. Optisch untermauert eine Flut von Farbstrudeln das so erzeugte Klangbild – ein Gesamtkunstwerk von beängstigend faszinierender Intensität.
Auch Unsane versteht es, Frust und Unwohlsein in brachiale Gitarrenwände zu packen. Im Gegensatz zu den Kaliforniern verläßt man sich aber ganz tief unten in den Songstrukturen doch noch auf herkömmliche Rockharmonien, die bestialisch verpackt und verfremdet werden. Die Folge: ein Hauch weniger Schwermut und eine Idee mehr konventioneller, zorniger Pepp. Die Bremer Splitter sind die wohl bestangezogenste Lärmrockband der Stadt und mit Abräumern wie Party Diktator im Geiste verschwestert. Die metallischen Krachgitarren von Color My Soul vervollständigen das sinistere Line-Up eines Festivals der pathosfreien Düsternis.
L.R.
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