: „Es ist eine Art Zombieparade“
Martin Wuttke, Schauspieler und Intendant des Berliner Ensembles, hat jetzt auch inszeniert: Heiner Müllers letztes Stück. Ein Gespräch über Kargheit und Konsequenz, die Riesenfaust, das Echo des Krieges und Theater, das wirkt wie ein Alptraum
taz: „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ von Heiner Müller ist Ihre erste Regiearbeit. Sie haben diese Aufgabe gemeinsam mit der Intendanz des Berliner Ensembles übernommen. Hatten Sie ohnehin den Wunsch, zu inszenieren?
Martin Wuttke: Nein. Ich habe bisher zwar schon kleinere Arbeiten gemacht, aber das waren Abende, an denen ich dann selbst gespielt habe. An eine Inszenierung, in der gleich 30 Leute mitspielen, habe ich nie zuvor gedacht.
Hätten Sie diese Aufgabe auch ablehnen können?
Klar gab es die Möglichkeit, es nicht zu machen. Aber ich habe es irgendwie als Verpflichtung empfunden.
Heiner Müller hatte mit der Arbeit schon begonnen. Wie stark haben Sie sich an die Vorgaben gehalten?
Die wichtigste Vorgabe war mir der Text, alles andere habe ich versucht, zunächst so weit wie möglich beiseite zu lassen. Ich hatte mit ihm natürlich über die Aufführung gesprochen, ich sollte ja auch mitspielen. Dennoch konnte ich etwa das Bühnenbild, das er mit Mark Lammert entwickelt hatte, nicht einfach übernehmen.
Lammert und Müller hatten als Grundelement ein weißes Tuch auf dem Boden vorgesehen, zu dem in jeder Szene etwas dazukommen sollte. Etwa eine weiße Tafel an der hinteren Bühnenwand und ein blau-roter Läufer, der das Tuch vertikal durchschneidet. Ihr Raum von Nina Ritter ist durchgängig links weiß, rechts schwarz. Auch haben Sie die wenigen szenischen Vorgaben im Text noch weiter reduziert. Wie kam es zu dieser Abstraktion?
Wir haben kleinteilig begonnen und sind erst einmal mit vielen Requisiten dem gefolgt, was der Autor vorgibt. Ziemlich schnell wurde aber klar, daß das nicht realistisch zu bewältigen ist. Das Stück ist wie ein Kaleidoskop gebaut: Kleine Splitter, die sich zu immer unterschiedlichen Bildern zusammensetzen und dabei immer um die gleichen Themen kreisen. Und dafür mußte man eigentlich einen Unraum schaffen. Ein Raum, der die Möglichkeit für Projektionen läßt, aber eine bestimmte Strukturierung betont.
Sie haben den Text aber auch teilweise aus seinem Umfeld gelöst, wenn Sie etwa zwei Szenen gleichzeitig sprechen lassen, von denen eine unter russischen, die andere unter deutschen Soldaten spielt.
Die Probenarbeit hat gezeigt, daß etwas verlorengeht, wenn man versucht, die Szenen zu illustrieren. Die Kargheit war nicht von Anfang an geplant. Aber es war einfach unmöglich, etwas wie Stalingrad zu zeigen. Das Spezielle ist auch nicht das Thema. Alles spielt letztlich ja doch in Etzels Saal, wo man kaum noch unterscheiden kann, wer jetzt wen abschlachtet.
In der Szene, in der ein ehemaliger KZ-Häftling von den Russen abgeholt wird, weil er einen russischen Soldaten erschlagen hat, der seine Frau vergewaltigte, wollten Sie ursprünglich die Militärpatrouille zeigen – die Figuren sind im Programmheft noch aufgeführt. Jetzt aber wird der Hergang nur noch vor dem Vorhang erzählt. Hätte es dieser Szene nicht eine andere Qualität gegeben, wenn man sie ganz gespielt hätte?
Das konnte ich nicht inszenieren. Für mich ist das eine der berührendsten Szenen. Daß aber dann am Ende wirklich jemand auf die Bühne kommt und den ehemaligen KZ-Häftling abtransportiert ... Ich habe es ja probiert, aber als ich es gesehen habe, hat es mich nicht überzeugt. So gibt es eigentlich in allen Szenen bestimmte Verluste zugunsten einer größeren szenischen Strenge.
Es ziehen Bilder vorüber, die an die Arbeiten von Einar Schleef erinnern, der Frauenchor etwa, wenn das bei Ihnen auch weicher ist. Wie stark fühlen Sie sich dieser Herkunft verpflichtet?
Der Einfluß ist unverhohlen da. Wenn man zehn Jahre zusammen gearbeitet hat, gibt es eine gemeinsame Formensprache, die wir ja auch zusammen entwickelt haben. Das sind also durchaus Elemente, die meiner eigenen Vorstellung von Theater entsprechen. Was mir an dem Stück wesentlich scheint, ist der Klang. Diesen bestimmten Ton wollte ich treffen. Und der ist entweder sehr leise oder sehr laut. Im Grunde ist der äußere Aufwand noch viel zu groß. Alles könnte noch schlichter sein.
Aber wenn Sie jetzt noch dem Hitler-Darsteller die Kerze vom Zylinder nehmen und alles in einem schwarzen Raum spielen lassen würden, wären Sie bei einer szenischen Lesung angelangt.
Ja, vielleicht käme man zu einer gesteigerten Form von Lesung.
Gilt das nur für diesen Text oder glauben Sie, daß es im Theater immer weniger möglich ist, Geschichten zu erzählen?
Nein, das glaube ich nicht. Aber in diesem Stück wäre ein dampfender Schauspieler für mich undenkbar.
Zurück zum Klang des Stückes. Was ist das für ein Leise-Laut- Klang für Sie?
Stimmen aus dem Jenseits. Jenseits unserer Sprache. Die Figuren, die da sprechen, sind besessen von dem, was sie sagen. Ich bin davon ausgegangen, daß das alles Tote sind, die da sprechen. Es ist eine Art Zombieparade.
Peter Palitzsch und Manfred Wekwerth, die in der Szene „Maßnahme 1956“ im Berliner Ensemble den „Coriolan“ probieren, als die Nachricht von der Verhaftung Wolfgang Harichs kommt, leben aber noch. Palitzsch saß bei der Premiere im Publikum.
Ja. Aber die Situation, in der sie hier auftreten, ist vergangen. Das sind ja keine Porträts. Die Szenen haben immer etwa Archetypisches. Es hätte nicht tiefer in den Stoff geführt, wenn Palitzsch oder Wekwerth die Rollen selbst gespielt hätten. Dadurch hätte man am Ende möglicherweise weniger verstanden, was der Text eigentlich sagt.
Und was sagt er?
Eine zentrale Stelle ist die Kafka-Erzählung „Das Stadtwappen“ (die in einer Szene wörtlich zitiert wird, d. Red.). Es geht um den Turmbau von Babel und darum, daß die kleinen Probleme der Arbeiter plötzlich viel wichtiger werden als der Turmbau an sich. Irgendwann begreifen alle, daß es diesen Turm nie geben wird. Und da taucht der Wunsch auf, es möge eine Riesenfaust kommen und alles zertrümmern. Was in dem Stück generell beschrieben wird, ist die Sehnsucht nach einem Untergang. Die Erlösung scheint in allen Szenen eine Riesenfaust zu sein. Bei den Nibelungen, in Stalingrad ...
Aber die Riesenfaust gibt es nicht.
Nein, die gibt es nicht.
Können Sie akzeptieren, daß Müller Geschichte so pessimistisch, so linear auf eine Apokalypse hin gerichtet zeigt? Es gibt doch immer wieder positive, kraftvolle Momente in der Geschichte. Die sich dann vielleicht wieder ins Negative verkehren. Aber es ist doch trotzdem eher eine Wellenform, keine Linie.
Davon handelt das Stück aber nicht. Wenn man etwas anderes erzählen möchte, muß man ein anderes Stück machen.
Manche Regisseure konterkarieren die Haltung eines Stückes.
Dazu bin ich nicht in der Lage. Ich wollte herauskriegen, was der Text sagen will. Meine persönliche Meinung finde ich nicht so wahnsinnig interessant.
Ich aber schon.
(Pause) Ich bin jetzt 34. Die Geschichten, die hier beschrieben werden, kenne ich nur noch als Schatten. Ich habe Stalingrad nicht erlebt, ich habe 1956 nicht erlebt, in meine Zeit fällt allenfalls der „Rosa Riese“ (der Beelitzer Frauenmörder, d. Red.). Ich erlebe von all diesen Geschichten nur den Nachhall. Aber der ist enorm groß. Wenn man sich etwa die Bebauung des Potsdamer Platzes ansieht, und man guckt sich die Pläne an, die Hitler für „Germania“ hatte, dann muß man doch sagen: Am Ende hat es doch geklappt. Es wird ja alles neu gebaut, mit einem ähnlich gewaltigen Aufwand und einem ähnlich gewaltigen Ausdruck.
Und die Geschichte von der Riesenfaust – man kann das, was in Berlin passiert, durchaus so erleben, daß einem der Text realistisch erscheint. Das hilft einem natürlich nicht bei der Entscheidung, wie man sein Leben weiter gestaltet. Aber ... (Pause). Nein, ich muß anders anfangen: Als ich in den sechziger Jahren im Ruhrgebiet groß geworden bin, wuchs ich in einer zerstörten Landschaft auf. Riesige Industriegebiete waren zerbombt oder lagen brach. Und langsam wuchs Gras darüber und es entwickelte sich eine neue Form von Landschaft ...
Da haben wir ja so eine Wellenbewegung. Es entstand etwas. Was vielleicht wieder zerstört wird, aber erstmal entstand etwas.
Ja, aber dazu kommt noch ein gesellschaftlicher Aspekt. Wir haben damals gelernt, daß der Krieg etwas Furchtbares ist, was keiner mehr haben will. Es hieß: Jetzt ist Aufbruch. Aber den gab es dann ja eigentlich gar nicht. Es gab keinen Knick, sondern die Linie führt seither einfach weiter. Und das beschreibt das Stück. Die Natur macht vielleicht eine Wellenbewegung. Die Menschen offenbar nicht.
Aber immer wieder gibt es doch Leute, die etwas versuchen, die glücklich sind, und wenn es im privaten Bereich ist.
Setzt der Rückzug ins Private eine positive Kraft frei? Das scheint mir doch eher eine Art von Kapitulation zu sein. (Pause) In dem, was einen hier in Berlin umgibt, sucht man vergeblich nach der Manifestation einer positiven Kraft. Wenn man einen Freund trifft, dann kann es mal so einen Moment geben. Aber das ist ja letztlich ein asozialer Moment, der sich vom Gesamtprozeß abkapselt. Und insofern empfinde ich die Linie, die in dem Stück aufgezeigt wird, als ungebrochen. Ich würde diese Linie gerne brechen. Das wäre vielleicht eine Hoffnung.
Wenn Sie aber jetzt so etwas sagen wie „der Rückzug ins Private ist eine Kapitulation“, und tatsächlich läßt sich ein solcher Rückzug ja beobachten, wäre es für Sie dann nicht vorstellbar, ein Theater zu machen, das weniger abstrakt ist, das konkreter davon ausgeht, was die Leute außerhalb des Theaters erleben?
Ich habe da gar kein Sendungsbewußtsein. Mich interessiert das Fremde an den Stoffen, ich will nichts eingemeinden. Wenn es nur darum ginge, eine Aussage zu treffen, bräuchte man den großen Apparat des Theaters nicht. Es geht aber doch um das, was sich nicht so einfach formulieren läßt. Ob die Gesellschaft das braucht, ob sie das haben will, weiß ich nicht. Ich könnte für das Theater nicht agitieren. Aber mich persönlich fasziniert, was dort passiert. Wenn plötzlich ein Text spricht, und zwar auf eine Weise, wie sich der Autor in einem Interview nicht äußern könnte.
Auf eine Weise, die sich eher intuitiv vermittelt, etwa wie ein Traum? Wobei der Erkenntniswert von Träumen ja sehr begrenzt ist. Wenn man später versucht, sie zu verstehen, ist da sofort das Bewußtsein, das einen daran hindert, etwas anderes zu sehen als das, was man schon weiß.
Aber trotzdem ist man von Träumen oft besessen. Es wäre natürlich falsch, Theater mit Träumen gleichzusetzen. Aber wenn man einen Alptraum hat, kommt man ja am Morgen zu dem Punkt, an dem man sich ermannt, ihn abzuschütteln. Wenn Theater das könnte, fände ich das ziemlich gut. Nicht: Wir spielen euch jetzt etwas vor, das ihr wissen müßt. Sondern daß etwas stattfindet, dem man begegnet, wie man einem Alptraum begegnet: ein Erlebnis. Und dann kann man das abstoßen oder annehmen. Und selbst das Abstoßen bewirkt ja eine Kräftigung.
Suggestivität und Radikalität — ist das Ihr Programm als Intendant für das Berliner Ensemble, für das dann auch Regisseure wie Einar Schleef und Thomas Heise stehen?
Einar Schleef ist ein sehr wichtiger Regisseur für dieses Haus, und auch mit Thomas Heise möchte ich weiter zusammenarbeiten. Aber es würde mir schwerfallen, daraus eine Programmatik zu entwickeln. Man kann nicht sagen: Jetzt nehme ich den und den, und dann gibt das eine Einheit. Man muß das in der Arbeit ausprobieren, auch mit Leuten, die sich ästhetisch anders formulieren.
Klar ist natürlich, daß das Berliner Ensemble ein sehr kleines Haus ist, das keine Gemischtwarenhandlung werden kann. Unter welcher Überschrift sich das einmal zusammenfassen läßt, weiß ich nicht. Und „Brecht Müller Shakespeare“ (wie diese Spielzeit überschrieben ist, d. Red.) ist auch nur ein Programm. Wenn das nicht erlebbar wird, ist es nur ein Titel, der eben mehr oder weniger geschickt ist.
Ist das Haus momentan erfolgreich?
Sicher nicht. Aber für das, was hier ausprobiert wird, gibt es ein großes Interesse. Unsere Chance liegt darin, mit dieser Aufmerksamkeit zu arbeiten. Wir müssen versuchen, uns vom teilweise auch klebrigen Bild des Berliner Ensembles zu lösen, das mit der Geschichte dieses Theaters zu tun hat. Das ist nicht ganz einfach. Ich weiß nicht, ob das gelingt.
Bei Ihrem ersten öffentlichen Auftritt als Intendant im Januar, wenige Stunden, nachdem Sie das Amt übernommen haben, hatte ich den Eindruck, daß Sie sich in das Amt schicken, weil eben kein anderer da ist. Ist Ihre Haltung zu dem Posten immer noch so?
Ja, teilweise ist das noch so. Nach wie vor ist es so, daß ich mich nicht darum schlage, in einem Intendantenbüro zu sitzen. Zum Großteil sind das Tätigkeiten, die mich nicht besonders interessieren. Um es mit einem Wort aus der APO-Zeit zu sagen: Es ist entfremdete Arbeit.
Ein Intendant hat großen Einfluß auf das, was im Haus passiert.
Das gilt schon als Qualität an sich, daß man Einfluß nehmen kann. Das ist es aber gar nicht.
Und was ist mit dem Schauspieler und Intendanten Wuttke als Regisseur? Wollen Sie weiter inszenieren?
Die Arbeit an „Germania 3“ war für mich ein bemerkenswertes Erlebnis. Für einen Schauspieler ist der Text ein Tier, das vor einem ist, und gegen das man kämpft. Als Regisseur bewegt man sich freier im Text. Es war sehr angenehm, zu merken, wie leicht es mir gefallen ist, kleine Szenen zu entwickeln. Gleichzeitig ist es aber auch problematisch, daß man Schauspielern unter Umständen auch den eigenen Ansatz aufdrückt und die Person, die auf der Bühne steht, zurückdrängt.
Also: Werden Sie weiterinszenieren?
Nein. Ich möchte spielen. Interview: Petra Kohse
„Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ von Heiner Müller ist in dieser Spielzeit nur noch heute und morgen zu sehen, jeweils 19.30 Uhr (Dauer ca. 110 Min.), Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz
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