■ VLB: Das Riff Nietzsche
Friedrich Nietzsche ist der Philosoph der Gegenkultur, der Patron aller Revolten, die im Namen des „Lebens“ gegen die erstarrten Strukturen, das Korsett der Zivilisation, das Philistertum antreten. Von ihm stammt ein Satz, der auch die geheime Devise der Zehntausenden sein könnte, die heute auf den Straßen Berlins in der Love Parade marschieren: daß wir „erst aus dem Geiste der Musik heraus eine Freude an der Vernichtung des Individuums verstehen“. Das war damals auf die dionysische Kunst Richard Wagners gemünzt, aber es paßt auf die heutige Techno-Bewegung noch viel besser.
Ein Zentralbegriff aller Jugendkulturen der letzten Jahrzehnte ist so offensichtlich nietzscheanisch, daß man es kaum noch bemerken kann: Power. Die diffuse Bedeutung, die diesem unterdessen etwas aus der Mode gekommenen Begriff in subkulturellen Milieus zukam, bevor die Werbung das „Super Power Haargel“ erfand, trifft besser als alle philosophische Auslegungskunst, was Nietzsche mit dem „Willen zur Macht“ gemeint hat. Dieser Teil der Wirkungsgeschichte Nietzsches ist immer noch unterbelichtet.
Steven E. Aschheim, Senior Lecturer für Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem, hat jetzt eine monumentale Studie über „Nietzsche und die Deutschen“ vorgelegt, in der die „Karriere eines Kults“ so materialreich wie nie zuvor nachgezeichnet wird. Nietzsche war der erste Philosoph, dessen Ruhm durch die florierende Kitschindustrie der Jahrhundertwende Starformat erreichte. Nietzsche war der erste freischwebende Intellektuelle, der mit einem elitären Gestus in den Massenmedien Erfolg hatte, wenn er ihn auch nicht mehr genießen konnte. Er kam bei den Zeitgenossen, vor allem in den Mittelschichten, an, gerade weil er behauptete, seine Flaschenposten würden erst von künftigen, befreiten Generationen zu entschlüsseln sein. Wie wir immer wieder erleben können, ist diese Geste bis heute ein Lieblingstopos intellektueller Distinktionsspiele.
Schon in den neunziger Jahren, während der letzten umnachteten Jahre des Propheten, wurde sein Gesicht mit dem markanten Schnurrbart zur Ikone eines stellvertretenden Leidenden stilisiert. Hier hatte einer für alle das Martyrium des Geistes auf sich genommen; einer hatte zu Ende gelebt und erlitten, was die Abrichtung durch eine lebensfeindliche Zivilisation aus der Bestie Mensch macht: so muß man wohl den Nietzsche-Jesus, den Fritz mit der Dornenkrone deuten, den der Nietzscheaner Georg Lapper 1900 als Exlibris benutzte. Sein Gegenbild ist der „nackte Nietzsche“ aus dem Jahr 1907, ein beispielloses Philosophen-Pin-up zwischen Griechentum, Lebensreform, schwuler Ästhetik und Protofaschismus, das besonders absurd wirkt, wenn man sich die herzzerreißenden psychosomatischen Leiden des echten Nietzsche vor Augen hält: über Jahre hinweg Migräne, unerträgliche Kopf- und Magenschmerzen, kombiniert mit einer extremen Sehschwäche, eine Disposition, die viel an seinem Denkstil erklärt – denn wer die Quellen nicht mehr lesen kann, muß sich seine eigenen Gedanken und oft riskante Sprünge machen.
Aschheim geht es nicht um eine weitere These über den „wahren Nietzsche“, sondern um die vielen Lektüren, die des 20. Jahrhunderts beansprucht haben, das Erbe des unglücklichen kleinen Mannes zu verwalten. Es ist frappierend, wer da im Laufe der Jahre alles angetreten ist – von der Jugendbewegung bis zu den Reaktionären, vom Vegetariertum bis zu den militanten Antisemiten, von den Nazis bis zu liberalen Rabbinern wie Cäsar Seligmann mit seinem „Willen zum Judentum“ und selbst orthodoxen Juden wie Nehemias Anton Nobel, der 1898 schrieb: „Jeder Jude, der eines von den sogenannten Ceremonialgesetzen mit Bewußtsein ausführt, erfüllt damit die Umwerthung aller Werthe, von der Nietzsche spricht.“
Aschheim macht aber kein Kuriositätenkabinett auf, er huldigt auch nicht dem dekonstruktivistischen Dogma, daß der wahre Sinn des Nietzscheanismus sich uns endlos entziehe. Er zeigt vielmehr, wie die geistige Formation, die wir „Nietzsche“ nennen, entstanden ist, indem immer neue Formen sich an sie angelagert haben wie an ein Korallenriff, das nur aus großer Höhe noch seine ursprüngliche Gestalt verrät. Aschheim interessiert sich nicht für den Höhenblick, er nimmt uns mit auf eine Tauchfahrt, in deren Licht die bizarren Bewohner dieses Riffs für einen Moment bunt aufleuchten.
Er zeigt zum Beispiel, wie Ernst Nolte sich seinen Nietzsche je nach den wechselnden Bedürfnissen seiner jeweiligen Schaffensphase modelliert hat: War Nietzsche für Nolte zuerst Mastermind der nationalsozialistischen Revolte gegen die „Transzendenz“ der bürgerlichen Welt, so erscheint er in Noltes jüngsten Werken als derjenige, der zuerst den großen „Weltbürgerkrieg“ vorhersah „und für eine Partei dieses Bürgerkriegs das Vernichtungskonzept“ schuf, „welches das Gegenkonzept zu einem anderen und ursprünglicheren Vernichtungsgedanken war“ – nämlich zu dem der Marxisten. Nietzsche bürgt also dafür, daß am Ende der Holocaust im Nolteschen Sinne als präventiver Akt der Selbstverteidigung gegen die jüdisch-marxistische Absicht zum Genozid verstanden werden darf.
Wer Schüler wie Ernst Nolte hat, braucht keine Feinde mehr. Angesichts solcher Deutungen möchte man Nietzsches Kitschdornenkrone des Fin de siècle fast doch noch für berechtigt halten.
Steven E. Aschheim: „Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults“. Aus dem Englischen von Klaus Laermann. J. B. Metzler 1996, 468 Seiten, 17 Abb., 78 DM
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