■ Morgen beginnt in Atlanta die Olympiade. Ein Rückblick auf die Geburt des Sports aus dem Geist der Maschine: Klatsch für Männer
Als am Anfang des 19. Jahrhunderts der Sport entstand, war die Technik im Begriff, die Fähigkeiten des menschlichen Körpers zu entwerten. Damals übernahm der Sport die Fortschrittsideologie der Ingenieurwissenschaften, die sich anschickten, den Körper auf der Grundlage eben des Prinzips Fortschritt zu einem Anachronismus zu machen. So war der Sport in seiner Geburtsstunde doppeldeutig: ein typisches Feld der Moderne, gleichzeitig ein Feld des unmodern gewordenen Körpers, eine Art Reservat für Männer.
Solange der Sport den Amateuren vorbehalten blieb, war er für die Insider eine höchst lustvolle Tätigkeit, die nach der Arbeit betrieben wurde: eine Spielwiese von herumtollenden wilden Jungen, die eigentlich Erwachsene sein sollten. Mit der Zeit ist der Sport alt geworden. Das liegt nicht an seinem Ernst – richtige Spiele sind immer ernst –, sondern an seiner Verzahnung mit Ökonomie und Geld. Sport ist keine Nebensache mehr.
Im 19. Jahrhundert bedeutete Fortschritt die Aufwertung der Maschine, des Unlebendigen: die Dampfmaschine, der mechanische Webstuhl, dann im 20. Jahrhundert der Verbrennungsmotor, schließlich die Elektrizität. Immer weiter fort vom menschlichen Körper, vom Lebendigen entwickelt sich die Technik. Zuerst hatte sie noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Körper, dann gab sie diese zugunsten abstrakter Modelle auf. Der Körper war abgehängt, das schwächste Glied in der Kette der Technikverwendung.
Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg wurde die Verbesserung körperlicher Fähigkeiten Angriffspunkt industrieller Techniken. Zuerst stellte die pharmazeutische Industrie Aufputschmittel und Psychopharmaka zur Erzeugung von Euphorie und Aggressivität her – dies alles mit dem Ziel, den Menschen optimal mit der Maschine zu verschalten. Der große Schub kam mit der Produktion von Sexualhormonen, mit der Herstellung von Substanzen, die der Körper selbst produziert. Mit diesem Entwicklungsschritt wurde die Natur selbst simuliert: Sie wurde nicht nur gesteigert, sondern besser gemacht, als sie selbst jemals sein könnte. Diese Idee war vom Sport vorbereitet worden. Im sportlichen Training soll der Körper mit Hilfe seiner eigenen Anstrengungen verbessert werden, indem seine Produktion von Muskelzellen usw. so optimiert wird, daß die Natur gleichsam durch sich selbst überlistet wird.
Historisch gesehen hat der Sport die Vereinigung des Körpers mit der Technik in zwei Schritten herausgebildet. Zuerst wurde der Körper der Athleten selbst zu einer perfekt funktionierenden Maschine. Jede kleinste Bewegung des Athleten muß sitzen; seine Schritte sind gleichmäßig wie ein Uhrwerk; die Abfolge der Gesten präzise. Der Athlet kommandiert sich selbst bis in die allerkleinsten körperlichen Reaktionen; alles läuft reibungslos. Er besitzt die wunderbarste aller Maschinen. Das sieht eindrucksvoll aus, aber das Maschinenhafte kann auch unheimlich, gelegentlich sogar abstoßend wirken. Erst richtig zur Geltung kommt es, wenn das spezifisch Menschliche an der Maschine zum Vorschein kommt. Zuerst war es das Leiden: Emil Zatopek mit seinem schmerzverzerrten Gesicht, die Tour de France als „Tour der Leiden“, die Tortur des Bergsteigens. Heute will der Zuschauer Leidenschaften aller Art sehen, vor allem den Ausdruck von Freude, das Schauspiel des bewegten Gesichts und die Zelebrierung des Triumphes. Das Innere muß sichtbar gemacht werden.
Erst in den letzten Jahren ist dieser zweite Schritt vollzogen worden: Die Körpermaschine des Athleten wird zugleich Bühne für den Ausdruck von Emotionen. Der Athlet hat die Maschine simuliert – nun überflügelt er sie, weil er, besser als jede Maschine, zusätzlich Empfindungen ausdrücken kann. Der zweite Schritt erscheint als ein notwendiger, weil der Sport in das System von Konsum und Verkauf integriert worden ist. Der Maschinenathlet hat für sich genommen noch keinen hohen Werbewert. Was er verkauft, sind nicht nur seine Leistungen, sondern in erster Linie die Bilder von sich und seinen Emotionen. Das ist aber nur die eine Seite; noch wichtiger ist, daß mit Hilfe dieser Bilder wiederum Produkte verkauft werden sollen. Die Verkörperlichung von High-Tech und von Gefühlen im Athleten erzeugt das ideale Klima für Werbung.
Früher, als der Sport noch jung war, sollte man durch ihn keineswegs reich werden (das blieb der Arbeit vorbehalten). Dieses Prinzip ist längst passé. Heute gilt: Das Körperkapital soll maximal genutzt werden. Franziska van Almsicks Eltern sind im Verein mit der Bild-Zeitung dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Das Körperkapital ihrer Tochter wurde gleich nach den ersten Erfolgen an mehrere Sparten der Unterhaltungsindustrie verkauft, ihr Leben in eine Show verwandelt. Scheinheilig beklagt dieselbe Presse den Verlust der Unbekümmertheit „Franzis“. Das Ergebnis ist eine maßlose Überforderung einer sportbegabten Jugendlichen, teilweise selbst erzeugt durch Werbeverträge und Verpflichtungen gegenüber den Medien, verstärkt von Verbandsvertretern und Politikern, die die erwarteten Erfolge für ihre Zwecke nutzen wollen.
Das Interesse an Spitzensport ist weitgehend männlich, das Reden über Sport eine Art Klatsch unter Männern. Spitzensport ist freilich nur solange attraktiv, wie er als leidenschaftliche Angelegenheit erscheint, bei der es vor allem auf die Werte des Sports ankommt. Nichts ist betrüblicher als die Erkenntnis, daß ein Athlet seinen Sport nicht mehr liebt, sondern möglichst schnell möglichst viel Geld verdienen will. Deshalb müssen alle am Sportsystem Beteiligten zumindest so tun, als seien sie für die Werte des Sports, für seine Repräsentationsaufgaben, gegen Doping und Unfairneß, gegen alles, was die Zuschauer zum Abschalten bewegen könnte. Daher halten sie – genau parallel zum Werteverfall im Sport – eine Rhetorik in Gang, die eben jene Werte preist, die sie selbst bedenkenlos preisgeben. Diese Spaltung des Spitzensports in Show und moralisierende Rede zeigt deutlicher als jedes zeitgenössische Theaterstück den Zustand der Gesellschaft an. Gunter Gebauer
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