: Die Angst vor den Wessis
1. DFB-Pokalrunde: Das thüringische Nordhausen fühlt sich bei der 1:5-Niederlage gegen 1860 München an die jüngste Vergangenheit erinnert ■ Von Christoph Nix
Nordhausen (taz) – Als der Bann gebrochen und die Nordhäuser Spieler vom FSV Wacker realisiert hatten, daß der TSV 1860 München auch nur mit Wasser kocht, da versprach das Spiel auf dem Rasen des Albert-Kuntz- Sportparks in der thüringischen Kleinstadt Nordhausen spannend zu werden. Nichts anderes als ein Glückstreffer von Bernhard Winkler war den Bayern bis dahin geglückt. Doch als nach kurzer Depression Wacker-Stürmer Guido Gorges in der 22. Minute das egalitäre 1:1 schoß, erschien es einem, als bliebe die Welt stehen, als begänne alles von vorne. So als würden die Karten zwischen Wacker (Ost) und 1860 (West) noch einmal neu gemischt, als könne man mit der Geschichte des Jahres 1989 von vorne beginnen. Doch diesmal mit gleichen Chancen für alle Mitspieler.
Zweifel konnte man allenfalls haben an der Unparteilichkeit von Christian Schößling, dem jungen Schiedsrichter aus Leipzig. Der stand unter gewaltigem Druck. „Löwen-Trainer“ Werner Lorant hatte sich noch in München lautstark darüber aufgeregt, daß der Leipziger „eine solch wichtige Partie vor seiner Haustür pfeifen dürfe“. Daß Leipzig im Bundesland Sachsen und 120 Kilometer von Nordhausen entfernt liegt, also vergleichbar dem Fall, daß ein Kölner Schiedsrichter (NRW) in Frankfurt (Hessen) ein Spiel pfeifen sollte, hatte der Mann aus dem Süden der alten Republik nicht bemerkt. Seine Kritik aber zeigte Wirkung. Mit der Strenge eines Menschen, der den anderen beweisen muß, gerade nicht auf der Seite der Ostmannschaft zu stehen, ahndete Schößling jede unklare Spielsituation mit der gelben Karte zu Ungunsten der Wacker-Spieler.
Hätte man die besten „Schauspieler“ des Tages zu küren gehabt, so wären Marco Walker und Manfred Schwabl von 1860 als Sieger vom Platz gegangen. Jede Wacker-Annäherung beantworteten sie mit einem theatralischen Wurf auf den Boden, einem Handgriffreflex ans eigene Schienbein, so als sei Schlimmstes geschehen. Der aufmerksame Beobachter aber konnte ersehen, und er sah es auch ohne Zeitlupenokular, daß nicht einmal eine körperliche Annäherung stattgefunden hatte. Ein spannendes Spiel bis zur Halbzeit, spannend bis das 2:1 für die Münchner fiel. Aber eine taktische oder technische Überlegenheit der Bayern gegenüber den Thüringern war nicht zu erkennen.
Aber man sah auch die Angst des Wacker-Tormanns nach dem 2:1, und er begann den Fehler vieler ängstlicher Menschen zu begehen: die Flucht nach vorne. Er beugte sich weit, viel zu weit vor. Er stürmte ins Spielfeld, er verließ seine Torlinie und verlor die Orientierung. Auch hier ist der Rest Psychologie: Die Übermacht der einen ist das Ergebnis der Unterordnung der anderen.
Am Ende stand ein 1:5, ein haushoher Sieg des Goliath gegenüber dem David aus der Regionalliga. In einer Welt, in der nur Ergebnisse zählen, ein klarer Fall, und doch erschien es einem, als habe es in diesem Spiel eine perfekte, nahezu von einem Dritten geschriebene Dramaturgie gegeben. Alle den Sieg der „Wessis“ manifestierenden Tortreffer erfolgten erst in den letzten 18 Minuten, denn da hatten die Wacker- Jungs sich wieder gefügt, resigniert am Lauf der großen Geschichte.
Hervorzuheben aber bleiben die kämpferischen Partien im Mittelteil des 90-Minuten-Films: Marko Große, der Wacker-Verteidiger, spielte mit Grazie und Anmut. Der Münchner Auswechselspieler Horst Heldt gab den jugendlichen Helden aus Hollywood, und als Gegenpart diente der alternde, schon 35jährige Kapitän Jens Ludwig von Wacker Nordhausen.
Viele Nordhäuser Fans haben es in den letzten fünf Spielminuten nicht mehr ausgehalten, scharenweise verließen sie das Stadion, als die Niederlage unausweichlich wurde. Der Landrat steckte sich eine Zigarette an, der Kulturdezernent stahl sich vom Platze. Keine Wut war in den Augen der Fans zu erkennen, aber der gesenkte Blick der Verlierer in ihrem Gestus, während der dickleibige 1860-Präsident Karl-Heinz Wildmoser sich im VIP-Zelt für die Gastfreundschaft im Osten bedankte.
Nordhausen, hieß es abends dann im ZDF-Sportstudio, da denkt man allenfalls an Thüringer Würste und Doppelkorn, und wer so reduziert denkt, kann hier in Nordhausen nur die ewigen Verlierer sehen. Die Kleinstadt mit ihrer Fußballmannschaft aber ist mehr. In ihr liegt das barbarische Trauma, die historische KZ-Stadt zu sein, in der Wernher von Braun die V 2-Rakete der Nazis bauen ließ, und es ist zugleich eine Stadt, in der die Bürger mitten im Ersten Weltkrieg im Jahre 1917 ein Stadttheater auf dem Hügel errichteten. Dort oben auf dem Berge werden die Utopien gemacht: Auf der Bühne werden die Großen klein und die Kleinen groß. Zu den Utopien gehört auch, daß Wacker irgendwann einmal 1860 schlagen wird. Vorausgesetzt sie realisieren ihre Angst, für die es technisch keine Gründe gibt.
Prof. Dr. Christoph Nix ist Intendant des Theaters Nordhausen, bestes und einziges Haus am Platz
Gelb-rote Karte: Ludwig (Nordhausen, 71.)
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