: Die Fische des Lazarus
Wenn Andre Agassi die US Open in New York gewinnen will, muß er heute erst mal ein Häuflein Elend namens Muster aus dem Weg räumen ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – „Ein ganz normales Tennismatch“ sei das Viertelfinale gegen den Österreicher Thomas Muster, sagte Andre Agassi ungewohnt friedfertig, mehr daraus machen zu wollen, sei „reine Zeitverschwendung“. Doch gar so normal wird es heute abend im Louis-Armstrong-Stadion von Flushing Meadow wohl nicht werden, denn Thomas Muster fühlt sich elend. Und wenn das der Fall ist, pflegt er stets besonders aufzudrehen.
Man mag es kaum glauben, was dem wackeren Leibnitzer alles an Unbill widerfährt. Fehlen eigentlich bloß noch Sandallergie und Filzphobie. Doch ob der Magen streikt, der Muskel zwackt oder der Kopf schwurbelt, Thomas Muster schleppt sich auf den Platz, sieht aus wie Bruce Willis am Ende von „Die Hard 27“ und rammt die Bälle ingrimmig in des Gegners Hälfte, bis dieser auch den letzten Schlag ins Netz oder ins Aus gesetzt hat.
Als der Österreicher vor Jahresfrist im Endspiel von Monte Carlo Boris Becker in fünf Sätzen niederrang, nachdem er tags zuvor beim Match gegen den Italiener Andrea Gaudenzi einen schweren Kreislaufkollaps erlitten hatte, was ihn natürlich nicht hinderte, die Partie – sozusagen auf alle Vieren – zu gewinnen, verdächtigte ihn Becker vor dem Finale recht unverhohlen der Simulation, danach der galoppierenden Wunderheilung durch fragwürdige Mittel. Dafür handelte sich der Deutsche eine sanfte Rüge von der ATP und eine Vielzahl unsanfter Bemerkungen des ihm ohnehin feindselig gesonnenen Muster ein, der nichts ärger haßt, als wenn ihn jemand „Alpen- Boris“ nennt.
Thomas Enqvist werden am Montag in seinem Achtelfinalmatch gegen Muster ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sein wie weiland Becker, doch der Schwede hielt wohlweislich den Mund. Faulen Fisch gegessen hatte der 28jährige Österreicher am Abend vor der Begegnung, und beteiligt war wieder Andrea Gaudenzi, der ebenfalls vom Muster- Coach Ronald Leitgeb betreut wird. Der Italiener lag nach der prekären Mahlzeit einen Tag lang flach, Muster spielte Tennis und scheuchte Enqvist solange herum, bis er mit 7:6 (7:4), 6:2, 4:6, 6:1 den Einzug ins Viertelfinale geschafft hatte. „Sobald er hinter dem Netz steht, zerreißt er sich den Hintern, um zu gewinnen“, weiß Agassi und ahnt gar nicht, wie nahe er der Wahrheit kommt. So sehr plagte den Tennis-Lazarus sein Verdauungstrakt, daß er nach dem ersten Satz sogar die Toilette aufsuchen mußte.
„Ich weiß nicht, ob meine Kräfte durchhalten werden“, sagte der Österreicher in Hinblick auf das Viertelfinale, eine Aussage, über welche die in New York versammelte Kollegenschaft herzlich gelacht hat. Muster, der als Nummer zwei der Welt in den Setzlisten ständig zurückgestuft wird, weil die Veranstalter noch nicht gemerkt haben, daß er sich vom Sandplatzspezialisten zum exzellenten Allroundspieler entwickelt hat, will sich mit Infusionen und Fußreflexzonenmassagen für das Spiel gegen den Olympiasieger fit machen lassen. Vermutlich wird er sich bei der Behandlung eine Blutvergiftung holen, während ihm der Masseur den Knöchel ausrenkt. Mit anderen Worten: Agassi hat keine Chance.
Der 26jährige Amerikaner, der Muster vor zwei Jahren an gleicher Stelle im Viertelfinale bezwang, bevor er sich den Titel holte, hatte giftige Worte gefunden, als der „Zweitligist“ aus den Alpen Anfang des Jahres die Spitze der Weltrangliste erklomm. In New York könnte er Gelegenheit zu weiteren verbalen Hieben bekommen, wenn schon die mit dem Schläger nicht sitzen sollten. Gelingt es Muster, bei den US Open weiter zu reüssieren, und patzt die Nummer eins Pete Sampras, wäre es wieder soweit: ausgerechnet die beiden maladesten Protagonisten der Tenniszunft stünden ganz oben.
Auch Steffi Graf ist nämlich nicht fit. Diesmal plagt sie aber nicht das chronische Rückenleiden, sondern sie hat Knieprobleme. „Ich muß mich schon wundern, wie Steffi trotz aller Probleme einigermaßen klarkommt“, sagt ihre heutige Viertelfinalgegnerin Judith Wiesner aus Österreich und meint nicht nur die körperlichen Leiden, sondern auch den morgen beginnenden Prozeß gegen Peter Graf, der die US-Journalisten brennend interessiert, ohne daß sie der Tochter des Steuerspezialisten brisante Aussagen entlocken können. „Ich habe mit meinem Tennis genug zu tun“, beschied die 27jährige barsch alle neugierigen Fragesteller, und auf dem Platz, so befürchtet Wiesner, „schaltet Steffi total ab“.
Gegen die 15jährige Russin Anna Kournikowa, vom renommierten Coach Nick Bollettieri betreut und seit Jahren als größtes Talent der Tennisszene gefeiert, war die totale Konzentration nicht erforderlich. Graf leistete sich 21 „unforced errors“ und gewann dennoch mit 6:2, 6:1, da Kournikowa vor Ehrfurcht schier erstarrt war. „Wenn nicht Steffi Graf auf der anderen Seite des Netzes gestanden hätte, hätte sie sicher anders gespielt“, sagte Steffi Graf in jener dritten Person, die sonst nur Lothar Matthäus und Diego Maradona im Munde führen, und lobte die junge Russin: „Sie hat viele Möglichkeiten.“
Erheblich weiter ist bereits eine andere 15jährige. Martina Hingis vollbrachte das Kunstsück, im Achtelfinale die Spanierin Arantxa Sanchez-Vicario mit 6:1, 3:6, 6:4 auszuschalten. „Wenn man Arantxa im dritten Satz mit 6:4 schlägt, kann man schon stolz sein. Normalerweise gewinnt sie solche Spiele“, freute sich die Schweizerin.
Gelassen kommentierte Steffi Graf, mögliche Halbfinalgegnerin von Hingis, das Ausscheiden ihrer permanenten Finalgegnerin aus Spanien: „Das ist mir wurscht.“
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