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Kuhmist aus kolonialer Vergangenheit

Surrealistisches Grundrauschen, inzestuöse Verwaltungsbande und spektakuläres Anti-Spektakel: In Graz arbeitet sich der „steirische herbst 96“ ein wenig konzeptlos an Urschrei-Theater, Povera-Kunst und Raggamuffin ab  ■ Von Richard Stradner

Auf der Einladungskarte sieht man einen Mann in abgewetztem Hemd und ausgebeulten Jeans, der sich im rundum verspiegelten Interieur eines Nobelpissoirs beim Fotografieren fotografiert. Am unteren Rand in hellblauen Lettern: steirischer herbst 96. Der Künstler heißt Jörg Schlick, seines Zeichens einzig aktiver Vertreter der „Lord- Jim-Loge“, die das Motto „Keiner hilft keinem“ im Wappen trägt. Einst stand er dem Referat Bildende Kunst des Forum Stadtpark vor, bis ihm vor einigen Jahren der damalige Intendant des steirischen herbstes, Horst Gerhard Haberl, kurzerhand die Subventionen für ein als pure Provokation angelegtes Projekt strich: Man wollte sich mit dem Geld in Singapur vergnügen. Seither tituliert sich Lord Schlick als erbarmungsloser Einzelkämpfer im Grazer Kulturdschungel, der nur beiläufig mit der Geschäftsführerin des Forum Stadtpark verheiratet ist, dessen neuer Präsident Walter Grond – nach eigenen Worten Literat, dem Anschein nach kulturpolitischer Taktierer – ihn für den bedeutendsten Exportartikel steirischer Kunst hält. Die designierte Leiterin des steirischen herbstes, Christine Frisinghelli, ist indessen langjährige Herausgeberin der Camera Austria, des fotografischen Zentralorgans im Forum Stadtpark.

Auf diesem inzestuösen Terrain ist der steirische herbst neben dem Renommierfestival Styriarte seit nunmehr 28 Jahren immer noch die Spielwiese, auf der vom freiberuflichen Installationskünstler über Ausstellungsmacher/Galeristen bis zu den Grazer Bühnen alle mitmischen möchten. Ist sein Etat (mit zirka drei Millionen Mark) gering wie noch nie zuvor, so winkt eben doch die Chance auf die Wahrnehmung durch ausländische Medien. In den vergangenen Jahren waren es so zugkräftige Namen wie Botho Strauß („Angelas Kleider“), Werner Schwab („Mesalliance aber wir ficken uns prächtig“), Tomas Pandur („Russian Mission“) oder Christoph Schlingensief („Hurra Jesus! Ein Hochkampf“), die deren Aufmerksamkeit (wenn auch spärlich) nach Graz locken konnten.

Für 1996 fiel diese Aufgabe in die Hände Wolfgang Bauers und dessen Regisseur Thomas Thieme, der zum Auftakt des herbstes „Die Menschenfabrik“ aus der Taufe hob. Bauers surrealistisches Kopf- Rausch-Meta-Theater der späten Stücke interessiert sich vor allem für gutgetimte Dialogarbeit und solide Splatter-Psychologie. Von „Magic Afternoon“ über „Magnetküsse“ bis zum Roulette spielenden Faust hatte man den erfrischenden Eindruck, dieses fröhliche Antitheater wäre auch im Rausch erschaffen worden. Mit dem Schauspieler Thieme als Regisseur erlebt man zweistündige Katerstimmung. Das liegt natürlich auch am Stück, was man nach Aussagen des Autors keinesfalls ernst nehmen sollte. Der Stadt beliebtester Theaterskandalierer vor Schwab war ein denkbar schlechtes As für die Eröffnung eines „Avantgardefestivals“, dem es einfach nicht gelingen will, über einen Avantgardebegriff von vor 30 Jahren hinauszuwachsen.

Bis ins vorige Jahr hatte der herbst einen Hausphilosophen und einen Denker, auf den man sich berufen konnte. Der Philosoph hieß Peter Strasser, sein Denker Vilèm Flusser. Über vier Jahre hinweg entwarf Intendant H.G. Haberl entlang deren theoretischen Fluchtlinien eine „Nomadologie der Neunziger“, auch in Form reger Publikationstätigkeit. Da wuchs dann an Programmpunkten oft vieles zusammen, was nicht schlüssig zusammengehörte. Musikalisch machte Haberl Konzessionen an den totalen Kitsch. Die durchlöcherten Wegweiserpfeile im Stadtraum blieben 1990 rätselhaft. Aber man hatte sich zumindest einen theoretischen Bogen übergespannt: Diese Möglichkeit stand der neuen Intendantin nicht zur Verfügung (und auch das Programmbuch ist zu einem Projektreader geschrumpft). Der plötzliche Rücktritt ihres Vorgängers, der zudem noch in die vorgezogenen Wahlen fiel, ließen der versierten Fototheoretikerin und Ausstellungsgestalterin einfach keine Zeit für langfristige Entwürfe. Gleichzeitig wechselte das Kulturressort der Steiermark die Partei. Nach dreißig Jahren Österreichische Volkspartei liegt es erstmals in den Händen der Sozialisten. Vielleicht hat Christine Frisinghelli in diesem kulturpolitischen Wirrwarr aus Not und Zeitdruck das Beste gemacht und ihr Einstandsjahr auf drei mehr oder minder sichere Stützen gestellt: Peter Weibel, Hartmut Skerbisch und Catherine David.

Weibel betreibt die Mammutausstellung „Inclusion: Exclusion – Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration“. Fünfundfünfzig Künstler aus fünf Kontinenten sollen demonstrieren, „wie die sozialen Systeme der Ersten Welt ... in die Dialektik ihrer Differenzierungen eingebettet sind und logischerweise Ausgrenzungen produzieren, welche die Ausgeschlossenen vor fast unlösbare Probleme der Identität und Repräsentation stellen“.

Jenseits solcher verbalen Alienationen, die zum Betrieb gehören, kann man in den großflächigen Hallen der Grazer Reininghaus-Brauerei Kunst begehen, sehen, lesen und hören, wie es vor Ort sonst selten möglich ist. Was sich hier zwischen Südamerika, Asien, Australien und Kanada ausstellt, ist unmöglich auf einen Nenner zu bringen. Es bleiben vage Aspekte: Die Verwendung „armer“ Materialien, vom Polaroid bis zum Kuhmist; der ironische Umgang mit der kolonialistischen Vergangenheit und deren aktuellen kapitalistischen Variationen; die reflexive Unbefangenheit, mit erzählerischen Mitteln der kunstbefangenen europäischen Mitte zu erklären, daß es diese Mitte nicht gibt. Romuald Hazoumé (Benin) fertigt aus Plastikflaschen vom Müll Totemmasken, der in Paris lebende Huang Yong Ping hat eine Brücke aus Glas installiert.

Die bildenden Künstler Hartmut Skerbisch und Michael Schuster wollten diesem „Remapping“ der kulturellen Kartographie musikalisch entsprechen, indem sie bis zum letzten Freitag acht Tage lang „Jamaican Dancehall Culture“ also DJs, Soundsystem-Engineers und Vocalisten präsentierten. Angepeilt waren die Twenty- somethings. Gekommen sind die 30- bis 50-somethings, die Rastafari noch im Original gekannt haben. Der Fehler lag bei den Veranstaltern: Wäre das Festival unter Disco, Rave, House oder sonstwas gelaufen (und nebenbei nicht hinter der Grazer Oper) – es hätte als Happening funktioniert.

Als Leiterin der kommenden documenta hat Catherine David unter dem Titel „Ici et ailleurs“ eine brave Auswahl von 36 Filmen kuratiert, die in jeder Stadt, die weder ein Filmfestival noch funktionierende Programmkinos besitzt, dem Filmfreund das Herz höher schlagen läßt. Trotzdem: sehr konzise ist die Sammlung nicht. Denn was sollen Moholy- Nagys „Großstadtzigeuner“ von 1932 beispielsweise neben Nani Morettis „Der rote Wasserball“ aus dem Jahr 1989? Dafür gibt's selten zu Sehendes aus den Niederlanden („Broken Silence“ von Eline Flipse), dem Senegal („Touki Bouki“ von Diop Mampety) oder Frankreich („Le lion, sa cage et ses ailes“ von Armand Gatti). Geladen sind die Filmemacher Merzak Allouache (Algier), Rashid Masharawi (Gaza), Abderrahmane Sissako (Mauretanien) und Zhang Yuan (China). Aus der Restfülle des Programms (Ausstellungen, Klanginstallationen, Internet-Projekten etc.) stechen noch zwei Punkte hervor: Das obligate E-Kultur-Event „Rashomon“, eine Oper der Japanerin Mayako Kubo nach Kurosawas Film, sowie ein Symposion „Echos und Masken“ plus Ausstellung zu Elfriede Jelinek.

Und Don Fabrizio? Der neue Chef des Forum Stadtpark, einst vielbeschworenes „Zentrum der deutschsprachigen Literatur“, hat dieses Jahr den ergrauten Fürsten Alfred Kolleritsch abgelöst. Mit ein wenig senilem Gepolter mußte er sich in sein Schicksal fügen und wird sich nun ausschließlich der Pflege seiner „manuskripte“ widmen. Walter Grond, der Literat, der mehr Talent für Politik als Literatur besitzt, hat ihn aus dem Palast verjagt. Seitdem wird alles so neu, daß es älter wirkt als bisher. Auf jeden Fall haben die Vorstände der einzelnen Referate keine Verfügungsgewalt über ihr Budget mehr, das Gros davon soll Gronds Zukunftsvisionen gehören. Eine davon heißt Liqueur, will eine Zeitschrift sein und ist eine schmuddelige Zeitungsbeilage, die viermal jährlich dem österreichischen Standard zu entnehmen sein wird. Darin wird über Grond-Projekte diskutiert, die dieser Tage bereits öffentlich ausgetragen werden (Symposion „Hotel Europa“). Die Zeitung wie das längerfristig geplante Projekt einer Zusammenarbeit mit der Universität auf ein kulturelles Schulungsforum hin lesen sich wie der Antrag auf einen Gesetzesentwurf, der allen Kunstsparten in Sachen marktwirtschaftlicher Kompetenzfähigkeit die Maßstäbe vorgibt. Die Internet- Spezialisten hängen in den Startlöchern.

Aber es gibt drei Projekte in diesem herbst-Forum, die dem jetzigen Hausbrauch von Fabrizio oder Grond sich nicht fügen. Eine Architektengruppe hat im Keller eine Bar eingerichtet, die vom 1. bis 26. Oktober eine Art Dauer-Rave mit unzähligen Gruppen veranstaltet. Außerdem wurde ein Städteprojekt initiiert, das Santiago de Chile, Los Angeles, Saigon und Istanbul nach Graz holt. Den Ausgangspunkt dieses „Städteroulettes“ bildet die situationistische Theorie des „Dérive“, des (in diesem Fall: äußerst kontrollierten) Umherschweifens in wenig bekannten urbanen Zonen. Zwei Videos vom situationistischen Gründervater Guy Debord, darunter sein bekanntestes, „La société du spectacle“, ergänzen dieses Spektakel, das die Spektakelkultur unterwandern möchte.

Eine aus ähnlichem Geiste geborene Idee war es, das Forum Stadtpark kurzerhand in eine „Pension Stadtpark“ zu verwandeln. Dort können sich „einkommensschwächere Gäste des steirischen herbstes“ zwölf Tage lang von KünstlerInnen aus allen Sparten betreuen lassen.

Inclusion – Exclusion“, bis 26.10., Graz. (Das Programm ist über steirischer herbst, Sackstraße 17/I, A-8010 Graz, zu beziehen. Tel 043/316/82 42 17-0)

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