: Nicht wie's im Buche steht
■ Das Weihnachtsmärchen „Der Rote Korsar“ in den Kammerspielen
Der durchschnittliche Zuschauer bei der Premiere des Roten Korsar ist etwa einen Meter dreißig groß, ißt Schokolade und Gummibärchen und geht in die zweite Klasse – und kreischt vor Begeisterung, um die Schauspieler zu einer Zugabe zu bewegen. Kein Wunder: Der Rote Korsar, ein musikalisches Weihnachtsmärchen in den Hamburger Kammerspielen, strotzt vor Kinderträumen und kindlichen Haßobjekten. „Ich will Spaghetti!“, ruft Julia (Patricia Tiedtke) und wehrt sich trotzig gegen Medizin und Kamillentee, die sie schlucken soll. Denn Julia verbringt Weihnachten im Krankenhaus und kuriert ihre Lungenentzündung aus, weit weg von ihren Eltern und bewacht von einem schleimigen Krankenpfleger.
Gerade als Julia vollends verzweifelt, tauchen ihre Freunde Tom und Max auf, jeder mit einem Buch Der Rote Korsar in der Hand. Weil sie sich nicht einigen können, wer Julia die Geschichte vorlesen darf, spielen die drei die Handlung nach. Was nun folgt, ist teilweise aus dem Buch Die Brautprinzessin von William Goldmann abgeguckt und ereignet sich in etwa so: Armer Stallbursche verliebt sich in schöne Prinzessin und sie sich in ihn. Stallbursche fährt zur See und läßt die Prinzessin allein, die prompt von einem bösen Prinz zur Heirat gezwungen und eingesperrt wird. Stallbursche befreit die Prinzessin, und alles wird gut.
Obwohl nicht alle Ideen von den Verfassern des Stückes stammen, ist Der Rote Korsar kein kitschiger Abklatsch der Brautprinzessin. Im Gegenteil: Die Dialoge sind von so trockenem Humor, die Schauspieler so gekonnt wütend oder glücklich, daß auch Goldmann-Fans begeistert sein dürften.
Im Gegensatz zur Vorlage hat Der Rote Korsar keinen eindeutigen Helden. Die Prinzessin ist nicht nur reizend, sondern entwickelt fast sadistische Züge, als sie ihren Stallburschen zwingt, die Krankenhaus-Medizin zu trinken. Der böse Prinz ist nicht nur finster, sondern jammert mitleiderregend nach seiner Mami, und der verliebte Stallbursche ist genauso rechthaberisch wie geldgierig.
Gespielt werden alle zehn Personen von vier Schauspielern: Patricia Tiedtke, Thomas Kretschmar und den Autoren Marc Letzig und Alexander Geringas. Viel Zeit zum Umziehen bleibt da nicht: Da macht ein Kopftuch aus einer Prinzessin einen Piraten oder eine Krone aus dem Piraten einen Prinzen. Die Improvisation wirkt jedoch nie unprofessionell, vielmehr überzeugt Der Rote Korsar gerade durch seine nackte Schauspielkunst.
Judith Weber
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