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Verfluchte Brüche in der Logik!

Was vom Jahre übrigbleibt, ist dies: Harry Klein. Da sitzt er. Ein „idiot savant“. Im Duty-free von Palma am Schnapsregal. Plus weitere unveröffentlichte Sätze aus den zehn Notiz-Chinakladden eines Sportreporters  ■ Von Peter Unfried

Den einen unvergessenen Moment des olympischen Jahres erlebt man zu Hause. Liegend. Im Bett. Laß ihn mal rennen. Drei Uhr nachts. Da rennt er schon. Geht ja um nichts. Für uns sowieso nicht. Für den auch nicht. Der kann nicht gewinnen. Plötzlich liegt man trotzdem nicht mehr. Krampft statt dessen in die Decke. Und kuckt sich an. Kann...der...es... doch wieder schaffen?

Der kann es nicht schaffen. Und falls doch: Geht einen gar nichts an. Der rennt da so mit ... der ... kann es, der s-o-l-l es S-C-H-A-F- F-E-N. Da kommt die verdammte Zielgerade. Jetzt machen wir das wie in Barcelona. Jetzt fliegen wir an Boulami, Bitok und selbst Niyongabo vorbei. Jetzt schaffen wir's!

Doch nicht. Und so sackt man zurück in dieser Nacht. Und spürt unangenehm die Stelle, an der die Beine das Laken naßgeschwitzt haben. Wenn es Bronze gewesen wäre! Ein verfluchter Bruch in der Logik! Diese verfluchte Scheiße! Zuletzt schläft man doch – trotz eines Satzes, der im Gehirn kreist wie ein Hubschrauber-Rotorblatt: Menschenskind – das kann, das kann es doch nicht geben.

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Frankfurt (Oder). Wolke- Camp. Grüner Teppichboden, gelbe Wände, eine Kaffeemaschine, ein Ring. Die Boxer sind davon. Schulz auch. Der Trainer Manfred Wolke wird fotografiert. „Ein Anflug von verschmitztem Lächeln?“, fragt er. Irgendwie hat man den Eindruck, er sei keiner, der verschmitzt lächeln könnte. Es hängen Bilder von Schulz und Maske an den Wänden. Hinten im Eck aber ist ein viereckiger Fleck.

„Wir haben die Bilder etwas umgehängt“, sagt Wolke scheinbar betont unbetont.

Später Geraune: Torsten May!

Berlin. Café Deutsche Oper. Baake kommt vom Sportamt rüber. „Das beste Gefühl, das ich hatte, war gegen Beckenbauer zu spielen“, sagt Baake. Vor zwanzig Jahren zahlten Magazine, um mit ihm zu sprechen. Da traf er in Dortmund Ali. Das meint: Man stellte ihn neben den Schwergewichtsweltmeister und fotografierte. „Beide boxen sich durch“ stand unter dem Foto.

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Palma de Mallorca. Torsten hat einen Fehler gemacht, als er Manfred verlassen hat, sagt Malcolm Garrett. Manfred wüßte, daß er noch nicht soweit ist für einen WM-Kampf.

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Ein Zelt im Erzgebirge. Quiz. „Es gibt zwei Athleten, die den olympischen Marathonlauf zweimal gewannen.“ Abebe Bikila ist klar. Wer ist der Zweite?

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Einen Tag später prügelt Garretts Mann May durch den Ring.

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Dresden. Der ehemalige Meißener Gewichtheber Roland Schmidt steht vor den Stufen des Landgerichts. Das Größte an ihm ist sein Schnauzer. „Man bekam das wöchentlich. In einem neutralen Umschlag“, sagt er. „Da man sich über Jahre kannte, hatte man vollstes Vertrauen.“ Das nahm ab, als er eine nichtmuskuläre Zunahme seines Brustgewebes feststellte. Gynäkomastie. Was ich nicht verstehe, sagt er immer wieder: daß „die“ nicht zur Verantwortung gezogen werden können.

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Cierpinski. Wer sonst? In Altenberg weiß das jeder.

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München, Olympiastadion. Der Reporter geht zu seinem Platz.. Und... dann... wird... der T-R-A-U-M wahr.

Klein.

Da sitzt er. Direkt daneben. Winkt irgend jemand. Inspektor Klein. Harry! Der verflucht-billigste Gedanke ist nicht zu verhindern. Ihn fragen: Ob mit dem Wagen alles klar sei... und im Büro...?

Später im Jahr in Schwanitz' „Der Campus“ gelesen: Oh, oh, und jetzt kam da der schratige Assistent des Kommissars, eine Figur wie aus dem Bauerntheater, ein Depp –

Was ist nur mit diesen Löwen los? Nach 24 Minuten steht es 4:0 für Bayern. Klein zuckt mit den Schultern. Er winkt jemandem. „Wie paralysiert“, sagt er dann.

und jetzt hob der auch noch den Telefonhörer ab, wählte, tut-tut,

„Wie paralysiert,“ sagt Klein noch einmal auf Nachfrage. Dann winkt er runter zur Ehrentribüne, wo Mucki sitzt. „Das gibt's ja ganz selten in der Geschichte der Bundesliga.“

der Schrat legte den Hörer wieder auf – und dann sagte der doch tatsächlich: „Es ist niemand da.“

Eine Falle. War es Scholl? Klein tappt hinein. „Also, für mich war er's.“ Bei jedem Tor springt der Inspektor begeistert auf, wedelt mit den braunen Lederhandschuhen und klopft Herzsprung ab.

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Stuttgart. Neckarstadion. Der Stadionsprecher: „Herr Abele, haben Sie schon festgestellt, daß Ihr Sohn Dirk nicht mehr bei Ihnen ist?“

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Im Polizeicomputer gefunden: Harry Klein (54), 1988 wegen Drogenbesitzes (Kokain) verurteilt, später wg. unerlaubten Waffenbesitzes. Einmal wegen fahrlässiger Körperverletzung angezeigt. Er soll eine Radfahrerin mit seinem Auto angefahren haben.

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Eine alleinstehende Notiz: Wenn es noch eines letzten Beweises bedurft hätte, daß mit dieser Welt etwas nicht stimmt!

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Oktober. Nach dem Besuch eines Spiels mit dem, was von Eintracht Frankfurt geblieben ist, schlägt man malerisch die Hände vors Gesicht. Ein seltsamer Zwang zwingt zum Notieren folgender Zeilen:

Diese verfluchte Scheiße. Diese verdammte Czernatzke! Ich habe gedacht, bis 8 Uhr wäre alles durchgezogen.

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Reich-Ranicki sagt, Fußball sei „furchtbar“. Man hat seine Sendung nach hinten geschoben.

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Du bist ein Mann, der Mann der Männer

Korrekt vom Scheitel bis zur Sohl'

Ob Kind, Ob Hausfrau, Szenekenner

Ein letzter Sieg, das war's dann wohl.

(Der RTL-Videotext-Gedichtwettbewerb vor Henry Maskes letztem Kampf)

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Germaine Greer: Fußball ist eine Kunst, die zentraler für unsere Kultur ist, als irgend etwas anderes, das ein Arts Council entwirft.

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Berlin. Olympiastadion. Der einzige, der bei Eintracht Frankfurt noch Autogramme geben kann, ist der Trainer. „Ich bin hierhergekommen, um das durchzuziehen, mit der Mannschaft, die mir unwahrscheinlich Freude macht“, sagt Dragoslav Stepanovic. „Alles andere macht mir keine Freude.“

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Ein Zwang zwingt zum Notieren folgenden Satzes:

Viel wäre gewonnen, wenn Herr Schön sich endlich einmal entschlösse, Hölzenbein für die Nationalmannschaft zu nominieren.

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Im Camp in Frankfurt (Oder): Sie können sich anrufen, sagt Henry Maske, und denselben Artikel schreiben. Nicht denselben – aber einen, wo das Wesentliche drinsteht. Das kann ich nicht. Wenn ich ein paar Runden nicht richtig mitgemacht habe, hier schenke, da schenke – im Ring wird's deutlich. Dann geht er davon, um an der Oder zu rennen. Dann geht er nach München.

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Verflucht: Seelandschaft mit Pocahontas liegt immer noch ungelesen am Ende des Tisches. Der blöde kicker ist zerblättert.

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Berlin. Deutschlandhalle. Die US-Frauen sehen einfach besser aus als die von Alba. Das heißt natürlich: Die Frauen sehen unechter aus. Hochglänzender. Diese Frauen hüpfen um die riesigen Männer herum. Ihre Gesichter lügen: Dazu sind wir ja geboren.

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Neckarstadion. Der Stadionsprecher: „Herr Abele, haben Sie schon festgestellt, daß ihr Sohn Dirk nicht mehr bei Ihnen ist?“

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London. District Line. Earl's Court Richtung Wimbledon. Ein Junge. Schätzungsweise 15, 16. Liest. Ein Buch! Salinger. The Catcher in the Rye.

Das Notizbuch vermerkt folgende Frage: Ist das nicht ungewöhnlich?

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Queensway. Ein Pub namens Prince Albert. Django spielt Nirvana. Unplugged. Irgendwie scheiße. Irgendwie okay. Vielleicht ist es mit dem deutschen Fußball auch so. Es ist nicht die wahre Sache. Aber – what the hell – häh? Während dieser Gitarrist sich an Marleys „I shot the sheriff“ versucht, entstehen wertvolle Aufzeichnungen. Endgültige Gedanken. Die Lösung aller Fragen, die EM und den europäischen Fußball betreffend. Teilweise womöglich von den Mitdenkern G. und Z. geklaut.

G. schreit in den Lärm: Was schreibsch du denn da?

Z. schreit in den Lärm: Isch das nicht zu dunkel, hier?

Seltsamerweise sind die Aufzeichnungen am nächsten Tag nicht zu entziffern.

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Leipzig, Messehalle. Michael Buffer: „Ladies and Gentleman, please welcome the next Heavyweight-Champion of the World – Äxlll Schuhulz.“

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Nach dem EM-Aus schlägt England zurück. Bäuerin Maria Fairfax (46) benennt ihre elf Ferkel nach deutschen Fußballern. „Es mag etwas seltsam klingen, Namen wie Kuntz über den Bauernhof zu brüllen“, sagt sie, „aber das ist meine Rache.“

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Wembley. Katakomben. Der letzte Mann humpelt heran. Was kann Bayern München von den DFB-Fußballern lernen, Thomas Helmer? „Einiges, was den Zusammenhalt von Trainer, Mannschaft, Präsidium angeht. Da müßte sich was ändern. Aber ich bin guter Dinge. Die, die hier waren, haben's kapiert.“ So humpelt frohgemut der letzte Mann davon.

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Eine isolierte Notiz: Jetzt hat Kohl Helmut Schmidt als erfolgreichsten Kanzler eingeholt. Schmidt gewann die WM 1974 und die EM 1980, wurde '82 zweiter. Kohl siegte 1990 und '96, wurde 1986 zweiter. Abgeschlagen: Brandt (EM '72) und Adenauer (WM '54). Glücklos: Erhard (Vize '66). Bestraft: Kiesinger (Tirana).

Ein niederländischer Zwerghase namens Gazza ist in Depression verfallen.

Waddle: Gascoigne ist ein veränderter Mann.

Das Notizbuch: Gascoigne ist der archetypische lad. Um den Ball herum schleimen die neuen lads: die Gallaghers, Baddiel, Skinner, womöglich Hornby. Der Evening Standard erklärt nach Southgates Fehlschuß das „Ende des Laddismus“ für gekommen. Schön wär's.

Bonusfrage: Kann es etwas Peinlicheres geben als Oasis an der Maine Road? Tribünen voller „Bastard-Popstars, die Bastard- Platten machen“ (NME)?

Zugegeben: Hartmut Engler im Neckarstadion.

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Germaine Greer: Gascoigne ist ein idiot savant. Also kein Vollidiot? Sondern ein sozusagen geniales Deppl?

Franz Beckenbauer, übrigens, lehnt ein Oxymoron ab. Er schreibt in Bild: Den Spruch: Der Star ist die Mannschaft halte ich für Blödsinn.

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Ein auf eine bestimmte Weise genialer Vollidiot?

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Palma. Airport. Der Tag nach dem Kampf. Im Duty-free am Schnapsregal steht Helmut Thoma. Im Mallorca-Hemd, mit dem Körbchen in der Hand, als könne er nirgends anders stehen. Als gehöre er einfach hierher.

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Lieblingsgeschichte des Jahres: Ein Mancunian Girl pflegte mit ihrem Bruder regelmäßig und mit Begeisterung nach Old Trafford rauszugehen. Dann aber, klagt er, heiratete die Schwester einen Manchester-City-Anhänger. Sie verlor das Interesse an Fußball.

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Jahresende. Berlin. Holiday Inn. „Das denkt man natürlich als Läufer auch“, sagt Dieter Baumann und lächelt. „Ich habe attackiert, 50 Meter vor Schluß war ich fast gleichauf, dann habe ich gespürt, ich komm' nicht ran. Dann lauf' ich über die Linie und denke: Menschenskind, das gibt's doch nicht.“

Der Olympiasieger wedelt mit den Händen. Er lächelt nicht mehr. „Das gibt's eben doch“, sagt er.

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