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■ SchlaglochAufmunterungsgymnastik für Sozialhilfeempfänger Von Klaus Kreimeier

„Anthropemie“, Kunstwort, von griech. „emein“ (=erbrechen)

Einen praktischen Vorschlag zur Einteilung historischer und gegenwärtiger Gesellschaftsformationen hat der Ethnologe Claude Lévi-Strauss gemacht. Er unterscheidet zwischen Gesellschaften, die Anthropophagie, und solchen, die Anthropemie praktizieren. Anthropophage Gemeinwesen verleiben sich von magischen Kräften besessene oder einfach unangepaßte Individuen menschenfresserisch ein – eine Methode, mit der man die Potenzen dieser nicht ganz geheuren Subjekte zu neutralisieren und gleichzeitig zu nutzen sucht. Anthropemie bezeichnet das genaue Gegenteil: Sie stößt die gefährlichen oder überflüssigen, jedenfalls „nicht integrierbaren“ Individuen aus dem sozialen Körper aus und isoliert sie zeitweilig oder für immer in „eigens für diesen Zweck bestimmten Einrichtungen“. Das können Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, sogenannte Seniorenheime oder auch die letzten noch verbliebenen Nischen der Sozialfürsorge sein.

Wenn die Anzeichen nicht trügen, ist das Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland jenen Gesellschaften zuzurechnen, die eine gegenwärtig noch verschleierte, jedoch in ihren Auswirkungen bereits konsequente Form von Anthropemie betreiben.

Die Selektion findet mit zunehmender Schärfe auf dem Arbeitsmarkt statt. In jener Epoche, in der die wirtschaftlichen Konjunkturzyklen noch funktionierten, oblag es den Arbeitsämtern, den Arbeitsmarkt zu regulieren. Das heißt: zwischen dem Angebot „freier“ Arbeitskraft und der Nachfrage auf der Seite der Unternehmer so zu vermitteln, daß der Eindruck, es herrsche „Vollbeschäftigung“, allgemein verbreitet und nachgerade identisch mit dem Bild geordneter Verhältnisse unter kapitalistischen Bedingungen war. Vollbeschäftigung hat es, im statistischen Sinne, nie gegeben – aber daß sie nicht nur zu wünschen, sondern auch erreichbar und möglichst langfristig zu sichern sei, war jahrzehntelang ein Glaubenssatz im Katechismus der „freien und sozialen Marktwirtschaft“.

Die Verhältnisse haben sich bekanntlich geändert. Wie die Dinge liegen, können die Arbeitsämter nur noch Statistiken liefern, die über die Dynamik Auskunft geben, mit der sich unsere Gesellschaft immer weiter und immer schneller von ihren Idealen entfernt. Darüber hinaus besteht ihre Aufgabe im psychologischen Bereich darin, diese Statistiken so zu manipulieren, daß das Bundesamt für Arbeit sich in der Lage sieht, Monat für Monat einen Schlechtwetterbericht zu veröffentlichen, der uns mitteilt, daß die Kälteperiode weiterhin anhalte, die Eiszeit jedoch noch nicht eingetreten sei. Im übrigen ist ihre Operationsbasis – wie die aller anderen staatlichen Institutionen – schmal geworden.

Der Staat betreibt nur noch Psychologie. Seine traditionelle Aufgabe, mit sozialen Reformen die Bruchlinien in der Gesellschaft zu kitten und ihre auseinanderdriftenden Teile zumindest dem Schein nach zusammenzuhalten, hat er an andere, außerstaatliche Einrichtungen abgetreten. An Instanzen des schönen Scheins, die das, was derzeit als „Integration“ gehandelt wird, zu Propaganda verfälschen.

Die Medien sind hier an erster Stelle zu nennen; mehrheitlich sehen sie ihre Hauptaufgabe darin, gute Laune in prekären Zeiten zu verbreiten und besonders die Ausgelaugten und Exmittierten bei der Stange, auf jeden Fall aber vor dem Bildschirm zu halten, der ihnen soziale Partizipation in eben dem Maße zu garantieren scheint, wie er sie im Virtuellen verschwinden läßt. Nicht das Privatfernsehen ist privat, sondern seine Zuschauer sind es – im Wortsinn nämlich: Sie sind beraubt durch „strukturelle Gewalt“, die sie zu Konsumenten degradiert und sie als Ausgespiene auf der Couch verkümmern läßt, wenn ihre Kaufkraft mit den Konsumappellen nicht Schritt halten kann. Aber auch die neuen Trendsportarten, von Inline-Skating über Beach-Volleyball bis Free Climbing, sind nicht zu verachten: als Muntermacher, als Streßbetrieb, der das Amüsement mit der Arbeitswelt verkoppelt – und vor allem als Suggestionsmaschine, die den aktuellen Sozialkampagnen die nötigen Stichworte – Dynamik, Schwung im Alltag, Risikofreude, Selbstvertrauen – liefert. Schließlich seien jene postmodernen Schamanen nicht vergessen, die mit ihren Workshops den Erschöpften und Ausgemusterten unserer Gesellschaftsordnung ein Psycho-Coaching andienen, das ihnen einflüstert, sie seien in der Lage, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, in den sie sich schließlich selbst, vermutlich durch notorische psychische Instabilität, hineingeritten haben.

Von kalifornischen Verhältnissen jedenfalls sind wir nicht mehr weit entfernt. Das staatliche „Welfare to work“-Programm, das sich dort Gouverneur Wilson ausgedacht hat, ist mit einem Sozialprogramm, das auf bessere Ausbildung und Qualifizierung der menschlichen Arbeitskraft für neue Produktionsprozesse setzt, nicht mehr zu verwechseln. Allzu eindeutig gibt es sich als vom Staat nur noch initiierte, im übrigen dem Selbstlauf überlassene Aufmunterungsgymnastik für Sozialhilfeempfänger zu erkennen, die in sogenannten „Express to Success“- Workshops für die Übernahme der trostlosesten, am wenigsten entwicklungsfähigen Jobs präpariert werden sollen. Die Betroffenen – in diesem Fall überwiegend alleinerziehende Mütter – werden „anthropemisch“ isoliert, während ihnen gleichzeitig mittels Supervision und Psychomassage das Gefühl injiziert wird, es bedürfe nur einer geballten Ladung Selbstvertrauen, eines autogen zu bewerkstelligenden „Motivationsschubs“, um wieder Anschluß an den davongaloppierenden Mainstream zu finden. Vor dem Spiegel werden die erfolgversprechenden Posen für das Vorstellungsgespräch eingeübt, zur Belohnung wird ein Schokoriegel mit der Aufschrift „Pay day“ verabreicht.

Das Modell solcher als Sozialhilfereform getarnten Augenwischerei haben jene selbsternannten Gesundbeter entwickelt, die für harte Dollars die exotischsten Behandlungsmethoden zur Erreichung von „Wohlempfinden, harmonischen Gefühlszuständen und höherer Lebensenergie“ anbieten oder die „Überwindung einschränkender (Sozial-)Erfahrungen“ mittels „Transaktionsanalyse“ in Aussicht stellen. „Ausdrucksarbeit“, Seelen-Coaching, „holotropes Atmen“.

Hier hat sich – in einer Zeit, in der die gesellschaftlich notwendige Arbeit knapp geworden ist, ohne daß sich auch nur im entferntesten ein Reich der Freiheit abzeichnen würde – ein Schatten-Arbeitsmarkt herauskristallisiert, auf dem mit Hoffnungen spekuliert und gleichzeitig die Verachtung gegenüber den Opfern unseres anthropemischen Systems ins Extrem getrieben wird.

„Vor allem aber sollten wir einsehen, daß manche unserer eigenen Sitten dem Beobachter aus einer fremden Gesellschaft als ebenso unvereinbar mit dem Begriff der Kultur erscheinen wie uns die Anthropophagie“, schrieb Lévi-Strauss. Er dachte an unsere Rechtspraktiken und unseren Strafvollzug. Mittlerweile hat die Verwilderung der Sitten größere Ausmaße angenommen.

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