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■ Bestürzend: Die Zunahme der KleinkriminalitätProtokoll eines Käsediebstahls

Lange Zeit wurde vor allem verdrängt, doch die ganze Wahrheit kommt jetzt immer deutlicher an den Tag: Die Deutschen klauen wie die Spechte, räubern wie die Schweine, klemmen wie die Ochsen. Sie kennen keine Tabus mehr und reißen sich unter den Nagel, was sie kriegen können, zu jeder denkbaren Zeit. Lesen Sie das Protokoll eines Käsediebstahls: ein erschütterndes Dokument, leider kein Einzelfall, sondern ganz alltäglicher Alltag in Deutschland.

18.24 Uhr: Die junge Frau geht noch schnell zum Lebensmittelkrämer gegenüber. Es war ein anstrengender, auch ein schöner Tag. Menschen sitzen vor den Straßencafés, plaudern, planen gemütliche Grillfeste. Das Stimmungsbarometer steht auf „Hoch“. Die junge Frau betritt den Laden und grüßt freundlich wie immer.

18.28 Uhr: Die junge Frau sucht sorgfältig aus: Brechbohnen, Sommerkartoffeln, Schultheiss Maibock in der Dose, fünf Bratwürste, Mineralwasser und ein Stück Gorgonzola. Für die zwei Putzfrauen hat sie ein Lächeln übrig. Sie parkt den Einkaufswagen vor der Kasse, legt Wurst, Wasser und Kartoffeln auf das Band, dazu das Bier, die Bohnen.

18.32 Uhr: Geschäftsführer Müller wollte schon vor zwei Minuten schließen. Doch die Junge muß noch zahlen, im knallroten Kostüm. Die Gespräche unter den Bediensteten drehen sich um das schöne Wetter. Das Baby der Gemüsefrau soll Lea heißen. In diesem Augenblick zahlt die letzte Kundin. Mit einem Zwanzigmarkschein. Dann stopft sie die Waren in einen mitgebrachten Korb, grüßt, verschwindet.

18.37 Uhr: Herr Müller verriegelt die Ladentür. Er geht nach hinten, wo die Truhe für Milchprodukte steht. Der Gorgonzola ist verschwunden. Die Kassiererin wird blaß, stottert: „Der Gorgonzola ist weg. Gestohlen! Und nicht bezahlt! Ich hätte es merken müssen!“ Müller konsterniert: „Ich hätte es der Dame nicht zugetraut.“ Und nach ein paar Sekunden des Nachdenkens: „Aber haben wir denn Beweise?“ „Den Käse“, bemerkt eine der Putzkräfte, „sehen wir nie wieder.“

19.05 Uhr: Eine geräumige Altbauwohnung. Die Dame im roten Kostüm lächelt zufrieden. Auf dem Eßtisch ein Weinglas, Teller, Käsemesser und ein großes Stück Gorgonzola. Dazu ein Brotkorb, prall gefüllt mit Kasten- und Stangenweißbrot – Diebesgut! Jetzt wird der Käse gegessen.

19.18 Uhr: Der Käse ist gegessen.

„Es wird immer schlimmer“, sagt eine repräsentative Anzahl deutscher Polizisten, „im letzten Jahrzehnt sind an die 14.000 Käseecken geklaut worden. Und kaum einen Täter erwischen wir. Und wenn, sind die Gerichte machtlos.“

Denn der Käse befindet sich in den meisten Fällen längst auf dem Weg in den Magen. Nach neuesten Polizeierkenntnissen stellen Endverbraucher gestohlene Käsesorten aller Art auf den Tisch, wo sie sofort verspeist werden. Der Bedarf ist hier im Moment größer als in Polen oder Lettland. Ein Polizeisprecher: „Dort wird auch weniger Wert auf ordnungsgemäße Kassenbons gelegt.“

Die Kühltruhen sind leer. Anruf bei der Käseversicherungsgesellschaft: „Wir werden mit der Bearbeitung noch acht Tage warten. Kann ja sein, daß der Gorgonzola vor Ablauf des Verfallsdatums noch irgendwo gefunden wird. Vielleicht wollte sich die alleinstehende Dame nur einen schönen Abend machen.“

Resümee: Käsediebstahl wird bei den Versicherungen schon abgewickelt wie beim Bäcker das Brötchenkaufen.

PS: Neben Gorgonzola ganz oben auf der Liste: Camembert, Gouda, Brötchenkäse. Jürgen Roth

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