: Na, es geht doch: Deutsche endlich gesund! Von Wiglaf Droste
Eine Meldung der Nachrichtenagentur AP: Vier Milliarden Mark konnten die deutschen Unternehmen 1996 bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einsparen. Mit Genugtuung vermeldete das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln Ende Juli diese „Entlastung“, die „vor allem dem deutlich gesunkenen Krankenstand zu verdanken“ sei.
Was ist los? Waren die Deutschen 1996 für vier Milliarden Mark gesünder als ein Jahr zuvor? Haben sie Gripppe, Zahnweh und alles Siechtum besiegt? Sind sie immunisiert, badeten sie in Drachenblut, wurden sie quasi giftfest? Oder hat sich die Qualität ihrer Jobs so verbessert, daß sie auch im Krankheitsfall lieber auf Arbeit gehen als zu Hause bleiben, weil die Maloche so angenehm, befriedigend und erfreulich ist, wie kein Privatleben es sein könnte?
Klasse wär's ja, wenn der alte Menschheitstraum vom unentfremdet gesellschaftlichen Reichtum produzierenden und an ihm partizipierenden Individuum erfüllt wäre; allein, es fehlt der Glaube. Eine halbe Stunde U-Bahn fahren gibt einem nicht unbedingt das Gefühl, im Land der Glücklichen, Freien und Entspannten zu leben, und wenn man den Rechtsnachfolgern des 20 Jahre nach seiner Ermordung endgültig selig gesprochenen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer in ihre fischlippigen Gesichter guckt, hegt man doch Zweifel daran, daß sie jetzt alle Mahatma heißen und im Namen der gerechten Verteilung irdischer Güter unterwegs sind.
Wozu sollten sie auch? Es zwingt sie ja keiner. Im Gegenteil: Sie stehen bestens im Strumpf und haben den Daumen drauf. Ihr Propagandafeldzug hat voll gegriffen: gegen Faulenzer, Laumalocher, Blaumacher, Schwarzfahrer und Parasiten im kollektiven Freizeitpark, und was an hübschem Vokabular noch so aufgeboten wird gegen Volksschädlinge.
Die Propaganda allein allerdings würde wenig nützen; so doof sind die Leute ja doch nicht, daß sie sich ein paar leckere, weil gestohlene Tage als die Hölle auf Erden verkaufen lassen. Wenn sie aber panische Angst haben – früher sagte man „Angst im Kapitalismus“, was heute zwar etwas dumpf klingt, aber nicht weniger zutreffend ist –, kann man mit ihnen nach Gutdünken verfahren. Eine nennenswerte Interessensvertretung haben sie nicht; daß sie aber ihre korrupten Gewerkschaftsführer zum Teufel jagen und sich auf eigene Faust organisieren, geschieht selten oder nie.
Wer schon Angst hat, dem kann man immer noch mehr Angst einjagen; deshalb war das Geld für die Unternehmerkampagne gegen angebliche Sozialschmarotzer auch gut angelegt: ein paar Millionen investiert, aber vier Milliarden gespart. An der Arbeitsfront ist die Botschaft angekommen: „Wir haben verstanden“, wird genickt, je nach Temperament zähneknirschend oder meistens doch ganz brav. Aus wem noch etwas herausgequetscht werden kann, ist sozial dazu verpflichtet, es abzuliefern; wer nicht mehr selbst laufen kann, kann geschoben oder getragen werden. Und so hätte AP auch melden können: „Aus dem Grab des ehemaligen SS-Ofiziers Hanns-Martin Schleyer rief gestern eine Stimme: ,Der Klassenkampf geht weiter – von oben natürlich!‘ Anschließend hörte man Gelächter.“
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