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Schwarzer Spiegel

■ Fieberträume, Halluzinationen, Jugenderinnerungen: "Nostalgia", die obsessive, rätselhafte Prosa des rumänischen Autors Mircea Cartarescu

Über Cartarescus „Nostalgia“ ließe sich folgendes sagen: Das Buch wühlt auf. Es löst Unruhe und Aufregung aus. Es zwingt zum Weiterlesen und zum wütenden Aufhören. Es weckt Haß, heftige Ablehnung. Es erheitert und erstaunt und ruft merkwürdige Stimmungen hervor: Melancholie über die Verwandlung der Zeit in Erinnerung, über den Verlust der Kindheit, die gar nicht paradiesisch war und doch als Verlust des Paradieses erscheint.

Aber auch das ließe sich sagen: Alles romantisches Gewäsch, diese Kindheiten, diese Jugenden, die der verrückte rumänische Autor da hinkritzelt, der Nationalpreisträger, eine allwissende Spinne, T.S. Eliot und eine Frau sein möchte, der sich Hoffmann, Poe, Novalis, Nerval, Kafka, Borges und Cortázar als literarische Zeugen herbeiruft.

Das sind doch krankhafte Fieberträume, Wahnvorstellungen: der allerheiligste Kuß zweier sich liebender zwölfjähriger Mädchen, die Verwandlung eines verklemmten Gymnasiasten in seine Geliebte nach dem ersten Liebesakt, russisches Roulette mit sechs Kugeln, das ein lebenslanger Pechvogel überlebt, die überirdische Liebe zweier siebenjähriger Vorstadtfratzen – was soll der ganze Quatsch?

Und dann dieses manieristische Verwirrspiel mit den Geschichten in der Geschichte in der Geschichte, verschachtelte Schachtelschachteln wie Babuschka-Puppen, nie weiß man genau, ob man in einem Traum ist, in einer Wirklichkeit, in einem Wahnbild, in einem Phantasiegebilde, und immer muß man aufpassen, wer gerade auf welcher Zeitebene erzählt. Postmoderne Neoromantik?

Nein, so nicht. Über dieses Buch muß ganz anderes gesagt werden.

„Es gibt vier Arten von Menschen. Die Ungeborenen, die Lebenden, die Gestorbenen und jene, die weder geboren, noch am Leben, noch gestorben sind – das sind die Sterne“, doziert der siebenjährige Mendebilus, Anführer einer Kindergang in der Bukarester Vorstadt, „Held“ des nach ihm benannten Textes und der erstaunlichste Liebende in diesem Buch. Um ihn herum versammeln sich muskelstarke Bürschchen und lauschen den unglaublichen Erzählungen des schwächlichen, aber mit magischen Kräften ausgestatteten Jungen – ein zumindest vorübergehender Sieg der Literatur über die Gewalt und eine Ahnung davon, daß in Kinderköpfen die Welt noch eine Ganzheit darstellt. Zeit und Raum sind noch nicht begrenzte und begrenzende Dimensionen, sondern nach Ewigkeit und Unendlichkeit bemessen.

Mehr als nur eine Ahnung davon vermittelt Cartarescu in seiner obsessiven, verwirrenden Prosa, in deren Zentrum drei expressive Geschichten über Kindheit und Adoleszenz stehen: schöne und entsetzliche Geschichten. Dabei sind es eigentlich ganz gewöhnliche Ereignisse, unsere frühesten Lieben etwa, wie sie wohl jede und jeder in ähnlicher Weise erlebt und größtenteils vergessen haben mag, weil das, was wir im Kindesalter für erstaunlich hielten, uns später nur noch banal erschien.

Cartarescu nimmt die „Geschichten“ – entscheidende Lebensabschnitte – so wichtig, daß er sich aus der kopfbetonten Erwachsenenperspektive herausschält, sich mit geradezu leidenschaftlicher Sehnsucht in frühere Vorgänge imaginiert und sie in Träumen und halluzinatorischen Bildern noch einmal durchlebt und durchleidet.

Weil er so hautnah bei seinen Personen steht und in sie hineinschlüpft, erhebt sich erst gar nicht die Frage, ob er ein realistisches Bild präpubertärer und pubertärer Problematiken zeichnet. Denn diese Jolanda, Gina, Nana, Esther, dieser Andrei, Trajan, Valli sind authentisch. Man mag sie für altklug, neurotisch, überspannt oder gar altmodisch deklarieren, sie sind echt und wahr und wirklich. Sie sind die Kinder und die Jugendlichen, die miteinander spielen oder sich verprügeln, die sich lieben und die sich hassen, die ewige Freundschaft schwören und Freundschaften zerstören, die träumen und phantasieren, vor allem aber sind sie es, in denen noch ein ursprüngliches Staunen über die Dinge und die Welt ist.

Cartarescu kann vielfältige Farben in allen Nuancen auftragen, harte Striche setzt er ebenso gekonnt wie feinstes Pastell. Es gelingt ihm, von diesem Staunen mehr zu vermitteln als eine unbestimmte Wehmut, benetzt mit dem „schwarzen Tau der Nostalgie“. Wer sich auf das Buch eingelassen hat, merkt das spätestens, wenn er es beiseite legt. Dann möchte man auch in den verhüllten Spiegel schauen, auf die Gefahr hin, darin etwas anderes zu sehen als das eigene Spiegelbild. Und möchte, wenigstens in den Träumen, „Genesis und Apokalypse zugleich“ erleben, die verlorene Ganzheit der Welt. Balduin Winter

Mircea Cartarescu: „Nostalgia“. Roman. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka. Verlag Volk und Welt, Berlin 1997, 448 Seiten, 45 DM

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