: Willkommen zum deutschen Tortenherbst Von Susanne Fischer
Meiner alten Devise, daß die Welt immer ekliger wird, habe ich eigentlich schon seit Jahren keine wesentliche Erkenntnis mehr hinzufügen können und muß deshalb als veritable Langweilerin gelten. Nein, ich gehöre entgegen anderslautenden Gerüchten nicht zu den unterhaltsamen Damen, die auf der Frankfurter Buchmesse nur beschwipst auf Dichterlesungen gehen, um dann „Ausziehen! Ausziehen!“ zu brüllen. Das war nämlich die – egal. Eher bin ich schon bei den Mädels zu finden, die bei so einer Gelegenheit peinlich berührt „nur das nicht“ flüstern und zart erröten, was der Dichter nicht hören respektive sehen kann. Nur damit das mal klar ist: Dichterlesungen mit Ausziehen wären nun wirklich eklig, eklig wie der Auswurf im „Zauberberg“ oder Kunsthonigbrote, und ich arbeite ja nach Möglichkeit gegen meine eigene Parole.
Mein Kollege hat vor kurzem als neues Arbeits- und Lebensmotto „Alles ist dumm und widerlich“ ausgegeben, das zwar durch Totalität besticht, aber nicht über jene dynamische Qualität verfügt wie das konkurrierende „Die Welt wird immer ekliger“. Am beeindruckendsten schien mir jedoch, daß jener Kollege die neue Weltwahrheit erkannt hatte, ohne gesehen zu haben, was ich gesehen hatte: einen Lastwagen, der für einen Bio-Lebensmittel-Vertrieb fuhr. Den Fahrer. Dessen Namensschild. Alle Lastwagenfahrer müssen ja neuerdings ein Metallschild mit ihrem Vornamen an der Windschutzscheibe befestigen, so schreibt es das Individualitäts-Zuteilungs-Amt vor. Wo also meist „Marco“, manchmal „Kevin“ oder gelegentlich sogar „Klaus-Blödi“ steht, leuchtete mir hier ein „Öko- Kurti“ entgegen. Wahrscheinlich nennt Kurti seinen fahrenden Heuschober Brummi, seine Frau Mutti und sein Unterhemd Rippi. Aber Kunsthonigbrote würde Kurti nie essen, das muß man ihm zugute halten. Sicherlich ist er auch voll recycelbar. Nach seinem Tod verwandelt er sich in eine Sonnenblume mit der Aufschrift „Bio- Blumi“.
Ohne Etiketten geht schließlich beinahe gar nichts mehr. In einem Café bekam ich neulich ein Stück Torte serviert, auf dem ein Schokoladentäfelchen klebte, das den rosafarbenen Schriftzug „Himbeertorte“ trug, falls man sich der eigenen Bestellung nicht mehr entsinnen könnte. Nie hat mir früher jemand „Kunsthonigbrot“ auf mein Kunsthonigbrot geschrieben, um mich daran zu erinnern, daß ich mir keinen Bio-Honig leisten konnte. Erstaunlich an dieser Entwicklung ist allein das Vertrauen meiner tortenbeschriftenden Landsleute in die Lesefähigkeit ihrer tortenessenden Landsleute. Vielleicht würde der „Zauberberg“ von Thomas Mann in der recycelfähigen Himbeertortenedition größeren Anklang finden als im siebenhundertseitigen Taschenbuch, auf jeden Fall bekäme das Monumentalwerk so endlich seinen wohlverdienten Platz im Guinness-Kuchen der ekligen Weltrekorde. Außerdem könnte zu Frankfurt die langersehnte Tortenmesse eröffnet werden, auf der der Friedenspreis der deutschen Konditoren vergeben wird. Günter Grass' Baumkuchen läge im Tortenherbst 1997 wie Blei in den Regalen. An diesen Satz würde ich gern ein Schokoladentäfelchen mit der Aufschrift „Ende“ ankleben, aber leider habe ich es schon vor dem Losschreiben aufgefressen.
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