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Dekadenter Körpertempel

■ Die Compagnie Raz eröffnet mit Bagno Blu, einer Choreographie über den Dichter Gabriele D'Annunzio, die independancedays auf Kampnagel

Am Anfang stand die Faulheit. Hans Tuerlings Vater arbeitete in Holland fleißig in einer Fabrik. Sein Kollege, ein Italiener, hatte noch andere Visionen vom Leben: „Da wo ich herkomme ist alles billig. Und die Sonne scheint immer. Da mußt du hin!“Papi blieb brav an der Maschine, aber der Sohn, gerade 17, wußte sofort, wofür er bestimmt war: abhängen am Gardasee.

Wenn der niederländische Choreograph Hans Tuerlings heute beschreibt, worauf seine jüngste Choreographie Bagno blu zurückgeht, klingt er, als hätte er gerade gestern noch italienische Olivenhaine geatmet. Und im Grunde ist es auch so, denn seit seinem ersten Besuch Anfang der 70er Jahre hat ihn die bergige Gegend um den Gardasee nicht mehr losgelassen. Vor allem eine Villa nicht, in der er damals eine Woche wohnte: Die „casa del sogno“des italienischen Dichters, Politikers und Mussolini-Freundes Gabriele D'Annunzio. „D'Annunzio wollte eine komplett neue Welt schaffen. Eine Welt, in der er glücklich sein konnte. Diese Welt ist dieses Haus.“Entsprechend seinen 16 wundersamen Räumen konzipiert der Choreograph ein 16teiliges Projekt, dessen erstes Stück, Bango blu, dem blauen Bad als „Tempel des Körpers“gewidmet ist.

Politik spielt in der Choreographie keine Rolle, obwohl Tuerlings sich ausführlich mit D'Annunzios Leben und Schaffen beschäftigt hat. Die Inspiration bezog der Holländer, wie für die meisten seiner rund 60 Choreographien, aus der Literatur: „Ein gutes Buch ist wie eine Geliebte. Es gibt einem die Energie zur Eroberung der Welt.“Diese Energie nutzt er auf der Bühne, ohne die Texte zu bemühen. Es geht um eine bewegungssprachliche Umsetzung der Eigenheiten der Literatur.

Bagno Blu stellt Tableaux, ist still und detailleversessen. „Es gibt viele nachdenkliche Momente auf der Bühne. Ich mag das: sitzen und denken. Wo die Welt sonst so schnell ist.“

Ursprünglich hatte Tuerlings Tänzer werden wollen, doch eine Knieoperation zwang ihn schon während seiner Ausbildung an der Rotterdam Dance Academy, diesen Plan aufzugeben. 1974 begann er, als freier Choreograph mit verschiedenen Ensembles zu arbeiten; 1990 bekam er ein Angebot aus Tilburg, eine eigene Company zu gründen. So entstand RAZ, eine Gruppe die mit fünf festen und gelegentlich zusätzlichen freien TänzerInnen arbeitet. „Wir haben eine völlig neue Tanzart entwickelt“, behauptet Tuerlings über ihre Arbeit: „Sie bedeutet, mehr nach innen zu gehen als nach außen zum Publikum.“

Bagno Blu erzählt von einer Ménage a trois in dekadenten Jahrhundertwende-Setting. Zwei ununterbrochen redende Frauen umschmeicheln den Dichter, gleiten geschmeidig um ein mehr melancholisch als wollüstig wirkendes Wesen. Ihre Verführungskünste zeichnen sich durch Reduktion und Andeutungen aus; D'Annunizio, weltbekannter Casanova, erscheint als zerissener Denker. Etwas stimme daran nicht, sagt Tuerling, und das sei die beunruhigende und interessante Frage für den Zuschauer: Was wird da passieren, wenn ich nicht mehr zuschaue? Was macht der Dichter mit den Frauen, wenn ich das Theater verlassen habe? Daß Tuerlings auf David Lynch und Quentin Tarrantino als die wichtigsten Künstler unseres ausgehenden Jahrhunderts verweist, läßt nichts gutes ahnen.

Christiane Kühl

Donnerstag, 8. - Sonntag, 11. Januar, 20.30 Uhr, Kampnagel k2

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